Hansjörg Anderegg

Station 9


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Blutes in die Schläfen zu pumpen. Mona schüttelte nur den Kopf und stellte nüchtern fest:

      »Würde ich nicht empfehlen. Die sind noch schön straff.«

      »Also hör mal!«

      Sie lachte hell auf. »Bleib locker, Mädchen. Auch ein Rollmops?«

      Mona sprang auf, eilte ans Büfett, ohne die Antwort abzuwarten. War das ihre seltsame Art zu trauern? Versuchte sie, ihre wahren Gefühle durch exaltiertes Verhalten zu verbergen – oder wollte sie einfach ihren Fragen ausweichen?

      Sie kehrte mit zwei Rollmöpsen und etwas Schwarzwurzelsalat zurück.

      »Ich dachte eher an Backhendl …«

      Schon stand sie wieder am Büfett. Kaum hatte sie ihr das halbe Hähnchen vorgesetzt, begann sie, den rohen Hering mit Lust zu verspeisen, als wäre er die Krönung des gestrigen Galadiners. Chris hoffte inständig, die sauren Lappen würden Monas Blutalkohol wenigstens soweit neutralisieren, dass sie ohne Rettung ins Hotel zurückfände. Allein, der Gott, der ihr stilles Gebet erhören sollte, existierte nicht. Sie bestellte noch ein Viertel. Chris konnte die Bemerkung nicht unterdrücken:

      »Du tust das nicht zum ersten Mal.«

      Mona sah sie mit großen, dunklen Augen an, lächelnd, mit klarem Blick, als hätte sie nur am Wasser genippt.

      »Was meinst du? Eine Brust anfassen? Ich bin Ärztin.«

      »Das meinte ich nicht, aber da du schon davon sprichst – ich habe immer noch nicht verstanden, was ihr da in Luzern genau treibt, du und Nick.«

      »Ich habe es dir auch noch nicht erklärt«, gab sie schmunzelnd zurück. »Im Ernst, es ist ziemlich kompliziert, aber man kann es mit einem Wort umschreiben: Gentherapie. Wir helfen Patienten mit genetisch bedingten Krankheiten, gewissen Typen von Diabetes zum Beispiel.«

      »Darum also das Interesse am Kongress.«

      »Ja, Nick will an vorderster Front dabei sein. Er ist ein Spitzenforscher, auch wenn er sich manchmal wie ein Kindskopf aufführt.«

      »Männer eben.«

      »Du hast es erfasst«, lachte sie.

      Die Schrammeln legten eine Pause ein. Das Reden fiel leichter.

      »Glaubst du, der Vorfall im Billrothhaus könnte etwas mit eurer Klinik zu tun haben?«, fragte sie vorsichtig.

      Mona zögerte lange mit der Antwort. Schließlich sagte sie abwesend:

      »Die Sache geht Nick ganz schön an die Nieren.«

      Chris wagte, noch einmal nachzuhaken.

      »Ein enttäuschter Patient oder Verwandter vielleicht?«

      Mona schüttelte entschieden den Kopf. »Patienten, die einen Kunstfehler vermuten, würden uns die Anwälte auf den Hals hetzen. Die haben gute Anwälte, das kann ich dir versichern. Unsere Therapien können sich nur die Wenigsten leisten.«

      »Kann ich mir vorstellen«, murmelte sie enttäuscht.

      Diese Fährte führte nirgendwohin. Daran würde auch ein weiteres Viertel Muskateller nichts ändern. Als die Musiker zurückkehrten, stand Mona auf.

      »Suchen wir uns ein ruhigeres Plätzchen. Der Lärm nervt. Ich bin älter geworden.«

      Sie bezahlten und verließen das Lokal.

      »Ich will aber noch nicht ins Hotel zurück. Da komme ich mir vor wie ausgesetzt.«

      Mona hakte sich lachend bei ihr unter. »Weiß ich doch.« Sie winkte ein Taxi herbei. »Steig ein.«

      Der Fahrer, mit Anzug und Krawatte unterwegs, quittierte das Ziel mit: »Sehr wohl, Gnä‘ Frau.« So etwas erlebte man wohl nur noch in Wien.

      Das Café Landtmann beim Burgtheater war eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen der dezenten Klänge aus dem Piano. Ein alter Herr, makelloses Jackett, blütenweißes Hemd und korrekte Fliege wie am ersten Arbeitstag, trat an ihren Tisch. Auf dem Namensschild stand: Herr Karl. Statt widerwillig nach ihren Wünschen zu fragen, wie Chris befürchtete, begrüßte er Mona freudig überrascht:

      »Frau Dr. Saatchi, schön, Sie zu sehen. Ein Verlängerter, schwarz wie immer?«

      »Selbstverständlich Herr Karl«, antwortete sie, nicht im Mindesten überrascht.

      »Er vergisst keinen Gast – niemals«, erklärte Mona, nachdem auch sie ihre Melange bestellt hatte.

      »Nicht zu fassen. Wann bist du das letzte Mal hier gewesen?«

      Sie überlegte. »Das muss mindestens zehn Jahre her sein.«

      Die Atmosphäre des Wiener Kaffeehauses umhüllte und beruhigte sie wie die schützende Gebärmutter. Jedenfalls stellte Chris sich die Zeit vor der Geburt etwa so vor. Sie saßen schweigend am Marmortisch. Monas Blick driftete ab – in die Vergangenheit?

      »Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte sie, um Mona in die Gegenwart zurückzuholen.

      »Und doch kommt es mir vor, als hätte ich gestern hier gesessen.«

      »Hast du – hattest du Familie in Wien?«

      Sie hätte die Frage besser nicht gestellt. Statt zu antworten, winkte Mona ihren Herrn Karl herbei, um zu bezahlen.

      »Ich bin hundemüde, muss ins Bett«, murmelte sie.

      Verwirrt folgte sie ihr zum Taxi. Bevor Mona einstieg, drehte sie sich plötzlich noch einmal um.

      »Nimm mich bitte in den Arm.«

      Im nächsten Atemzug kuschelte sie sich an sie wie ein Küken, das im Gefieder der Mutter Schutz sucht. Dann stieg sie ohne ein weiteres Wort ein. Chris starrte dem Wagen nach, bis sich die Rücklichter auf der Ringstraße verloren.

      

      Simmering, las Jamie auf einem Hinweisschild. Nick fuhr schweigend weiter. Fragen nach dem Ziel beantwortete er nur mit dem Grinsen, das er noch von Cambridge her kannte.

      »Liegt nicht der Flughafen in dieser Richtung? Wollen wir verreisen?«

      »Wir sind gleich da.«

      Die Gegend weit außerhalb der Stadt machte einen eher trostlosen Eindruck. Nick parkte bei einem Hochhaus, dem einzigen weit und breit. Die laute Inschrift zog sich über die ganze Fassade des sicher fünfzig Meter hohen Turms. Jamie rümpfte die Nase.

      »Ein Hotel – hätten wir das nicht schneller in Wien haben können?«

      »Abwarten.«

      Minuten später standen sie auf dem Dach des Gebäudes. Nick bewunderte die Aussicht.

      »Na, was sagst du?«

      »Was meinst du?«

      »Sieh dich um.«

      »Ich sehe grüne Wiesen, winzige Autos, einen Abluftschacht und ein paar Arbeiter.«

      Das Grinsen mutierte zum Gelächter, einem hinterhältigen Gelächter, wie er glaubte.

      »Das sind keine Arbeiter, mein lieber Jamie.«

      Fünf Schritte weiter verstand er die Antwort. Er kehrte mit einem kategorischen Nein um. »Bist du verrückt? Das mache ich nicht!«

      Nick stieß ihn lachend zurück. »Du hast nie bezahlt für mein Schweigen damals. Jetzt ist Zahltag.«

      Jamie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich soll mich da hinunterstürzen?«

      »Nicht stürzen. Wir beide laufen jetzt ganz gemütlich diese Wand hinunter. Deine Arbeiter werden uns sichern.«

      »Auf keinen Fall. Du spinnst.«

      Die Crew am Rand des Abgrunds beobachtete ihr Streitgespräch mit sichtlicher Ungeduld. Je mehr Gegenargumente ihm einfielen, desto stärker reizte ihn das Abenteuer. Ein Engländer blamiert sich nicht, schon gar nicht in Österreich.