Hansjörg Anderegg

Station 9


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zu.

      »Jetzt hat es auch Dr. Roberts kapiert.«

      »Schon, aber – meine Arbeit ist eine Forschungsarbeit. Es bleibt noch ein langer Weg bis zur klinischen Reife.«

      Nick lachte. »Das lass mal meine Sorge sein. Also, kriege ich das Manuskript?«

      Jamie zuckte die Achseln. »Meinetwegen, die Arbeit wird sowieso unter meinem Namen publiziert.«

      Chris wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge, bevor das Licht den Großen Saal des Musikvereins wieder golden erstrahlen ließ. Es war weniger die Musik der Wiener Symphoniker, die sie zu Tränen rührte, als die Erinnerung an ihren verstorbenen Vater, der ihr die Liebe zur Musik vererbt und es selbst nie in dieses Haus geschafft hatte.

      »Hat es dir nicht gefallen?«, fragte Jamie besorgt. »Du wirkst traurig.«

      Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe nur gerade an Papa gedacht. Schade, dass ich an kein Jenseits glaube, sonst hätte er sicher die letzten zwei Stunden mitgehört.«

      »Du stellst es dir einfach vor, ohne daran zu glauben.«

      Trotz der neuen Schuhe bestand sie darauf, zu Fuß ins Hotel zurückzukehren.

      »Keine dreißig Minuten, wäre ja gelacht«, prahlte sie.

      Sein Gesicht entsprach genau dem Gefühl in ihrem rechten großen Zeh, der sich nicht mit der eleganten Enge der High Heels abfinden wollte, die Mona ihr als Schnäppchen aufgeschwatzt hatte. Auf der Höhe der Secession, keine zehn Minuten unterwegs, setzte sie sich auf eine Treppe.

      »Ich kann nicht mehr.«

      Jamie hatte nichts anderes erwartet. Er nickte nur und zog das Handy hervor.

      »Warte. Gib mir eine Minute.«

      Sie streifte die Schuhe ab und warf ihm einen auffordernden Blick zu. Er verstand sofort. Grinsend begann er, ihren Fuß zu massieren.

      »Der andere.«

      Eine Gruppe junger Damen schien das außerordentlich zu amüsieren. Sie verstand kein Wort, aber die Geste war eindeutig. Die Damen streckten Jamie synchron das rechte Bein entgegen, bevor sie kichernd weiterzogen.

      »Wir sollten auch besser weitergehen, sonst artet das aus«, sagte sie lachend.

      Die paar Minuten bis zum Museumsquartier legte sie auf Strümpfen zurück. Das Hotel lag zwar in der Nähe, doch sie bestand auf einem Absacker. Vielleicht würde sie nach zwei, drei ›Ottakringer‹ endlich erfahren, was am Herrenabend wirklich geschehen war. Den ganzen Tag über hatte sie versucht, es ihm aus der Nase zu ziehen. Jedes Mal flüchtete er sich in medizinische Sachthemen, die er angeblich mit Nick stundenlang erörtert hatte.

      Sie wusste jetzt Bescheid über das ethische Dilemma der Eingriffe in die menschlichen Gene, über die schwierige Grauzone zwischen sinnvollen Therapiezielen und verbotenen Verbesserungen am Genmaterial. Sie kannte den Unterschied zwischen somatischen und Keimbahntherapien, bei denen nicht nur die Gene der betroffenen Person verändert würden, sondern auch die des potentiellen Nachwuchses. Eingriffe in die Keimbahn waren gefährlich und verboten. Das sah sie ein, aber was zum Teufel hatten die beiden gestern getrieben? Er blieb hart. Sie würde es nie erfahren. Um ihn zu provozieren, fragte sie:

      »Glaubst du, Nick könnte sich die Hände schmutzig gemacht haben mit nicht ganz koscheren Genmanipulationen? Sollte er deshalb beichten?«

      Er sah sie an, als hätte sie eben die Scheidung eingereicht. Lange überlegte er sich eine Antwort, bis er endlich den Kopf schüttelte und murmelte:

      »Du siehst überall nur Verbrecher, selbst im Urlaub.«

      Ihr Handy kündigte neue Mail an. Kopfschüttelnd sah er ihr zu beim Lesen.

      »Urlaub, Sonntag – schon vergessen?«

      Sie zeigte ihm die Nachricht. »Nur Spam, siehst du?«

      Er warf einen misstrauischen Blick aufs Display mit der Bemerkung:

      »Ich habe irgendwo gelesen, man könne diese Dinger auch abschalten.«

      Im selben Augenblick traf eine Meldung von Haase ein: Klinik Seeblick im Visier der Steuerfahndung. Sie reagierte nicht schnell genug. Er sah den Text. Seine Miene verfinsterte sich, wie sie es noch nie beobachtet hatte.

      »Mir reicht‘s!«, zischte er wütend. »Kannst gerne noch weiter gegen meinen Freund ermitteln, aber allein.«

      Sagte es, stand auf und verließ das Lokal ohne einen Blick zurück. Sie seufzte. Er würde jetzt etwas Zeit brauchen. Sie hatte übertrieben, nicht zum ersten Mal. Aber dieser Nick und seine Klinik …

      Eine halbe Stunde verstrich, ehe sie ihm folgte. Zeit genug, um über Haases neuste, inoffizielle Ermittlungsergebnisse nachzudenken. Unsicher auf den hohen Absätzen und in Gedanken versunken, wankte sie schließlich hinaus.

      Der Fahrer des Lieferwagens trat fluchend auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Frau auszuweichen, die offensichtlich blind über die Straße laufen wollte.

      »Tussi, hirnamputierte!«, rief er ihr nach, Puls auf 180.

      Ein Unfall fehlte ihm gerade noch, wo doch alles bisher rund gelaufen war. Die Ware im Baumarkt hatte offen herumgelegen. Jemand musste sich darum kümmern. Aber Kieberer wären jetzt nicht förderlich fürs Geschäft. Die sollen Parkpickerl kontrollieren und ihn gefälligst in Ruhe lassen, war sein Leitmotiv. Durch die Tussi landete sein Handy auf der Fußmatte. Jetzt spielte es jenseits der Mittelkonsole ›Mission: Impossible‹.

      »Scheiße, das ist sicher der Lorenz«, murmelte er.

      Anhalten war keine Option, außer es ging nicht anders. An einer Ampel fischte er das Telefon vom Boden und wählte den Rückruf. Sein Bruder hob sofort ab.

      »Ferdl, endlich!«

      »Was liegt an, Kleiner?«

      »Du sollst mich nicht Kleiner nennen. Ich bin sechzehn.«

      »Schon gut, also, was willst du? Ich hab‘s eilig.«

      »Bier ist alle.«

      »Du trinkst keinen Alkohol!«

      »Nein, aber falls du heute Abend ein Sechzehner-Blech brauchst, solltest du eins mitbringen.«

      »Alles klar, sonst noch was?«

      »Ja, ein paar Soletti, wenn du schon dabei bist.«

      »Sag mal, Kleiner!«, rief er ärgerlich, »hast du keine Beine?«

      »Schon, aber ich bin seit einer Woche stier, wie du weißt.«

      Er unterdrückte einen Fluch, denn beim Geräusch, das sich rasch von hinten näherte, stellten sich seine Nackenhaare auf wie bei einem Igel mit Panikattacke.

      »Ich muss …«

      Weiter kam er nicht. Er drückte Lorenz weg und schmiss das Handy auf den Beifahrersitz. Was zum Teufel wollten die Kieberer jetzt von ihm? Hatte ihn jemand verpfiffen? Gab es doch eine verdammte Überwachungskamera?

      Sie interessierten sich nicht für ihn und die am Baumarkt gefundene Ware im Lieferwagen. Die Streife preschte vorbei und verlor sich bald in der Nacht.

      Schon fast zu Hause in seinem Grätzl beim Westbahnhof, drosselte er die Geschwindigkeit. Das neue Graffiti des Kleinen leuchtete selbst im schummrigen Licht der Straßenlampe wie aus eigener Kraft. Lorenz war ein Naturtalent. Das hatten sogar die Knalltüten begriffen, die ihm beim Verticken helfen sollten. Gleich hätte er es geschafft. Beim Abbiegen in seine Straße sauste ein blauer Bentley um die Ecke, voll auf Kollisionskurs. Er konnte nichts anderes tun, als das Bremspedal durchzudrücken und laut zu fluchen. Der Bentley reagierte zum Glück ebenso schnell, scherte nach rechts aus und blieb in der Mauer stecken. Über ihm leuchtete das Graffiti wie das Altarbild in der Unbefleckten Empfängnis, wo er früher mal den Opferstock geleert hatte.

      »Da schau her, noch ein Fan«, murmelte er, während das Blut ins Hirn zurückströmte.