Hansjörg Anderegg

Station 9


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einen Unterschied?, dachte er, während er spürte, wie sich sein Skelett aufzulösen begann.

      »Wer zuerst?«, fragte er.

      Todesangst verlieh ihm eine gewisse Autorität.

      »Du natürlich.«

      Dabei wechselte Nick einen verstohlenen Blick mit dem Mann am Flaschenzug, der ihm nicht entging.

      »Du solltest dich jetzt besser anschnallen.«

      »Vielen Dank für den Hinweis. Wäre ich allein nie drauf gekommen.«

      Reden hilft, stellte er fest. Er würde sich später nicht mehr an den Blödsinn erinnern, den er auf dem Dach des Tower Hotels von sich gab. Das volle Bewusstsein erlangte er erst wieder, als er am Seil über die Kante kippte.

      »Knie durchstrecken!«, mahnte der Herr über Leben und Tod. »Nicht bücken! Schön steif nach vorne kippen lassen.«

      Der Mann sprach perfektes Englisch. Dennoch dauerte es ungewohnt lange, bis die Anweisungen Jamies Großhirn erreichten und die Muskeln die nötigen Befehle empfingen.

      »Immer brav tun, was der Meister verlangt«, riet Nick.

      Er spürte das schadenfrohe Grinsen förmlich im Nacken.

      »Beine zusammen, strecken! So ist‘s gut.«

      Er hing fast waagrecht über dem Abgrund, Gesicht nach unten.

      »Jetzt machen wir den ersten Schritt.«

      »Wir?«

      Die verzweifelte Scherzfrage war nicht vom Schrei eines Bussards zu unterscheiden.

      »Gut so, und nun lassen Sie das Seil ein wenig schleifen und machen einen Schritt mit dem andern Fuß.«

      Er hatte verstanden. Es war im Grunde lächerlich einfach. Langsames Gehen auf rauem Beton, nur eben senkrecht nach unten statt geradeaus, wie normale Menschen sich bewegen.

      Endlich im unteren Drittel angekommen, stellte er fest, schon seit Ewigkeiten keinen von Nicks bissigen Kommentaren mehr gehört zu haben. Der Boden rückte in Zeitlupe näher. Zum ersten Mal wagte er, den Kopf etwas anzuheben. Da stand sein sauberer Freund, winkte herauf und filmte weiter mit seinem Handy.

      Es wirkte wie ein letzter, tödlicher Adrenalinschub. Er ließ dem Seil zu viel Spiel, stoppte dann abrupt. Die Füße lösten sich vom Beton. Frei hängend drehte er Kapriolen, bis er die Orientierung verlor. Nicks Gelächter verstummte erst, als er, losgelöst vom Seil, wütend auf ihn zu stürmte. Der Kampf ums Handy endete mit Jamies klarer Niederlage.

      »Chris darf diesen Film niemals sehen!«, drohte er.

      »Solang sie kein YouTube schaut …«

      »Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du wirst das Video doch nicht ins Netz gestellt haben!«

      »Komm runter, Alter. Ich wüsste nicht einmal, wie das geht.«

      »Was hast du überhaupt hier unten zu suchen? Los, rauf aufs Dach. Ich will deinen Sturz filmen.«

      Nick blickte hinauf zum Flaschenzug knapp unter den Wolken. Dann schüttelte er den Kopf.

      »Niemals würde ich diese Wand hinunterlaufen. Ich bin doch nicht verrückt.«

      Auf halben Weg zurück in die Stadt hatte Jamie sich einigermaßen beruhigt.

      »Aber das Scheiß Video löschst du«, verlangte er kategorisch.

      »Nur wenn du mir eine Kopie deines Manuskripts lieferst.«

      Die seltsame Forderung überraschte ihn.

      »Du brauchst doch nur am Montag meinen Vortrag am Kongress anzuhören …«

      »Das reicht mir nicht«, unterbrach Nick ungeduldig ohne jede Spur von Ironie. »Ich brauche alle Details deiner Entdeckung, inklusive Quellenangaben.«

      »Die Arbeit wird in wenigen Wochen in der Fachpresse erscheinen.«

      »Zu spät. Ich brauche die Information jetzt.«

      »Wieso?«, fragte er verunsichert.

      Nick zögerte. Er bemerkte sein Befremden und entschuldigte sich.

      »Die Konkurrenz auf dem Gebiet der Gentherapie ist zwar noch überschaubar, aber gnadenlos«, erklärte er beschwichtigend. »Wenn du jetzt nicht an vorderster Front dabei bist, hast du verloren.«

      Jamies Bild sah nicht annähernd so schwarz-weiß aus, doch er hatte keine Lust, sich auf diese Diskussion einzulassen.

      »Ich brauche jetzt einen Cognac oder zwei«, sagte er stattdessen.

      In der Weinbar pendelte sich sein Adrenalinspiegel wieder auf den Normalzustand ein. Der Beweis? Er lachte über sich selbst beim Betrachten von Nicks Video.

      »Nicht zu fassen, dass ich auf den Blödsinn hereingefallen bin«, sagte er.

      »Ist doch ein gutes Gefühl, gib‘s zu.«

      »Als wüsstest du, wovon du sprichst.«

      »Was ist jetzt mit deinem Manuskript?«

      Nicks lauernder Blick sprach Bände. Er benötigte seine Forschungsergebnisse wie ein Junkie die Spritze.

      »Erkläre mir lieber, wozu du die Arbeit brauchst. Wohl kaum für deine Klinik, nehme ich an.«

      »Das wird sich weisen. Deshalb muss ich genau wissen, woran ich bin.«

      Jamie ließ den Rest des Cognacs im Gaumen kreisen, schluckte und bestellte zwei neue, bevor er sagte:

      »Und ich will zuerst genau wissen, was ihr in Luzern treibt.«

      Nach kurzem Zögern begann Nick auszupacken.

      »Wir haben uns auf Gentherapie spezialisiert, wie du weißt. Angefangen hat es mit der Behandlung der Erbkrankheit LPDL.«

      »Lipoproteinlipase-Defizienz, die Glybera-Story«, unterbrach er, nicht überrascht.

      »Genau. Die hat international Schlagzeilen gemacht, weil eine Dosis des Medikaments etwa so teuer ist wie ein Mercedes CLS Coupé. Die Behandlung eines Patienten kostet über eine Million Euro.«

      »Das liegt ja wohl in erster Linie am überrissenen Preis für Glybera.«

      »Sicher, aber du siehst schon, worauf ich hinaus will. The winner takes it all, verstehst du?«

      »Es geht also nur ums Geld?«

      Nick schüttelte vehement den Kopf. »Nicht nur, aber wir wollen auch leben. Der Punkt ist ein anderer: Ich bin überzeugt, dass es mit den neuen Entwicklungen des Gene Editing möglich sein muss, solche Behandlungen viel günstiger und damit allen Patienten anzubieten. Ich halte nämlich nichts von Zweiklassenmedizin.«

      Die Bemerkung reizte Jamie zum Lachen. »Das sagt der Richtige, Besitzer einer exklusiven Schweizer Privatklinik!«

      »Egal ob du mir glaubst oder nicht. Du wirst mir zustimmen, dass möglichst alle Betroffenen geheilt werden sollten, wenn es eine Chance dazu gibt. Im Falle von LPDL bleibt sonst den Patienten nichts anderes übrig, als alle paar Wochen zur Blutwäsche anzutreten. Ganz zu schweigen von lebensgefährlicher Pankreatitis.«

      Daran war nichts auszusetzen. Es gab zwar nur sehr wenige Menschen mit der Erbkrankheit LPDL, aber für die musste das Leben die Hölle sein.

      »Weil das Protein LPL nicht richtig funktioniert«, ergänzte er wie zu sich selbst, »werden Fettmoleküle nicht abgebaut, die den Blutkreislauf verstopfen.«

      »So ist es, und weißt du, weshalb die Behandlung so unverschämt teuer ist und lange dauert, abgesehen vom Preis des Medikaments?«

      »Weil man Unmengen injizieren muss in der Hoffnung, dass genügend Zellen das kranke gegen das gesunde Gen austauschen. Man sollte einen Weg finden, diesen Tausch der Gene spezifischer und effizienter zu gestalten. Das ist genau das Thema meines Vortrags am Montag …«

      »Eben«,