kommen. Sie nahm die Akten dankbar lächelnd entgegen, obwohl sie nicht daran dachte, sie wirklich zu lesen.
»Es gab gestern eine erste Pressekonferenz, habe ich gehört.«
Becker nickte. »Das Bulletin liegt auch bei den Akten.« Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich nochmals um und bemerkte: »Es lohnt sich nicht, den Wisch zu lesen, wenn Sie mich fragen. Der Artikel in der Abendzeitung gibt mehr her.«
Ihr Augenaufschlag genügte, um ihn zur Eile anzutreiben. Sekunden später lag die Zeitung, die sie auf Fischers Pult gesehen hatte, auf ihrem Tisch. Der erste Blick auf den Bericht über die Aachener Morde bestätigte Beckers Behauptung.
»Wer ist ›jh‹?«, fragte sie.
Sie erhielt keine Antwort. Becker hatte sich in Luft aufgelöst. Kurz entschlossen rief sie die Redaktion der Abendzeitung an. Nachdem der Termin vereinbart war, schwebte ihr Daumen einige Male über dem Kontakt Uwe auf dem Smartphone. In Wiesbaden herrschte Funkstille. Es fiel schwer, nicht anzurufen. Der IT-Guru würde sich auch von ihr nicht unter Druck setzen lassen. Er übte selbst den größten Druck auf sich aus, hatte jetzt wahrscheinlich kaum mehr einen Blick für seine Lena übrig. Sie fragte sich, wie die junge, frisch verliebte Frau das aushielt, und bewunderte sie dafür. Gegen die Beziehung mit einem Partner mit autistischen Zügen war ihre Ehe mit Jamie wahrlich ein Sonntagsspaziergang. Trotzdem klappte es nicht. Es lief gerade an allen Fronten nicht gut. Zweckoptimismus konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Haases Kaffee vielleicht, aber der war so unerreichbar wie der mysteriöse jury12. Aus purem Trotz studierte sie Beckers Akten bis tief in die Nacht hinein und las den Artikel in der Abendzeitung ein zweites und drittes Mal, bis sie ihn auswendig kannte.
Die unruhige Nacht im Hotel war kurz und wollte doch nicht enden. Gegen zehn Uhr fuhr sie endlich am Autobahnkreuz Neuss-Süd auf die A57 Richtung Köln. Der Chefredakteur Martin Brandt von der Abendzeitung hatte dem Termin um elf auf ihr Drängen zugestimmt, widerwillig. Aufgrund des Artikels ging sie davon aus, dass der Autor jh über Hintergrundinformationen verfügte, die Kollege Fischer fehlten. Die Redaktion war im Moment ihre einzige Hoffnung, einen Schritt voranzukommen.
Köln
Sie stellte den Wagen beim Kölner Rathaus ab und ging die letzten paar Schritte zu Fuß. Zehn Minuten zu früh stand sie vor der Tür der Redaktion. Eine Blondine etwa in ihrer Größe mit mädchenhafter Figur und Handy am Ohr überrannte sie beinahe auf ihrem Weg zur Toilette.
»Gute Idee«, murmelte sie und folgte ihr.
Die junge Frau hatte sich in einer Kabine eingeschlossen, um zu telefonieren.
»Was glauben Sie, wer Sie sind?«, warf sie dem unbekannten Teilnehmer am andern Ende an den Kopf. »Wofür halten Sie sich, verdammt noch mal? Wir leben in einem Land mit freier Presse, und was ich schreibe, stimmt bis aufs letzte Komma.«
Eine kurze Pause entstand. Chris hätte zu gern gehört, was der Gesprächspartner entgegnete, blieb unwillkürlich stehen und lauschte.
»Hätten Sie wohl gern«, rief die Blondine aus, »und wenn Sie mein Text das nächste Mal stört, kommen Sie direkt zu mir, statt meinen Chef zu belästigen.«
Das Schloss knackte, die Tür flog auf und wieder verfehlte sie die wütende Frau nur um Haaresbreite. Beide erschraken gleichermaßen, aber die Zunge der andern Blondine saß lockerer.
»Was stehen Sie hier herum?«, fauchte sie. »Verfolgen Sie mich?«
Schon riss sie die Tür zum Flur auf, dass sie hart an die Wand krachte. Chris hörte sie nur noch schimpfen: »Scheiße! Darf doch nicht wahr sein!«, dann fiel die Tür zu. Perplex starrte sie ihr nach. Was für ein reizender Käfer, war das Erste, was ihr zum Vorfall einfiel. Zudem hinterließ die Frau einen zarten Duft, den sie auch gerne verbreiten würde.
In Martin Brandts Glaskubus in der Ecke der Lokalredaktion roch es strenger. Der Chef schwitzte. Er grüßte sie ohne Begeisterung. Dass er sitzen blieb, störte sie nicht. Sie hatte die Krücken am Boden hinter dem Sessel wohl bemerkt.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie wir Ihnen bei der Aufklärung dieses Falles helfen können«, begann er.
Sie verzichtete darauf, ihm den feinen Unterschied zwischen den Mordfällen des LKA und ihrer Aufgabe zu erklären.
»Erzählen Sie mir einfach alles, was Sie über die Opfer und die Kampagne im Netz wissen, die in Ihrem Bericht ja auch erwähnt wird«, antwortete sie stattdessen.
»Sie sprechen von Julias Bericht in der gestrigen Ausgabe, nehme ich an.«
Julia, ›jh‹! Sie spürte ein Kribbeln im Nacken.
»Julia?«, fragte sie.
»Julia Hahn hat den Bericht verfasst. Sie war vor Ort am Abend der Tat.«
»Umso besser. Wo finde ich sie?«
Er deutete zur gegenüberliegenden Wand des Büros. Die Blondine! Wieder sträubten sich ihre Nackenhaare, ohne zu verraten, weshalb.
»Gut«, sagte sie gedehnt, »in dem Fall muss ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten. Ich wende mich an Frau Hahn.«
Er nickte stumm. Beim Verlassen des Glashauses hörte sie ihn warnen: »Vorsicht, sie steht gerade etwas unter Strom.«
»Habe ich bemerkt.«
Julia Hahn kroch fast in ihren Bildschirm, nur um sie nicht ansehen zu müssen. Chris stellte sich vor, legte ihre Visitenkarte auf den Tisch und fügte schmunzelnd an:
»Jetzt verfolge ich Sie doch noch.«
Der reizende Käfer betrachtete erst das Kärtchen eingehend, dann sie. Als sie die Nase rümpfte, passte ihr Gesicht noch besser zu den frechen Strähnen der Pixie-Frisur auf der Stirn.
»Kriminalhauptkommissarin«, las sie laut. »Schickt Sie dieser elende Fischer?«
Chris lachte laut heraus über die unerwartete Frage.
»Hauptkommissar Fischer vom LKA meinen Sie?«
»Genau den.«
»Da sind wir ja schon zwei.«
»Wie meinen?«
»Darf ich mich setzen?«
Julia Hahn deutete auf den leeren Sessel des Pults nebenan.
»Ich mag Tom Fischer auch nicht besonders«, erklärte Chris lächelnd.
»Ich hasse ihn!«
»Was hat er Ihnen angetan?« Da Julia Hahn zögerte, ergänzte sie: »Damit kein Missverständnis aufkommt: Fischer schickt mich nicht.«
Bevor sie die erste Frage stellen konnte, stand Julia auf mit dem Seufzer:
»Ich muss mal raus hier, und ich habe Hunger. Was dagegen, dass wir uns im Café unterhalten?«
»Kein Einspruch.«
»Das Funkhaus befindet sich gleich um die Ecke.«
Sie folgte der eleganten Erscheinung, immer noch leicht irritiert von ihrem Duft. Der reizende Käfer musste vergeben sein. Anders konnte sie sich die respektlose Gleichgültigkeit der männlichen Kollegen bei ihrem Abgang nicht erklären. Kein einziger starrte Julia auf den Hintern. In der spiegelnden Tür zum Flur erkannte sie den Grund. Sie fixierten alle ihren eigenen Po. Männer. Sie fanden eine Ecke im Café, wo sie sich einigermaßen ungestört unterhalten konnten.
»Ich nehme die Tortelloni«, sagte Julia zur Bedienung ohne einen Blick auf die Karte.
Chris entschied sich fürs erste leichte Gericht, das sie entdeckte, einen Salat mit Ziegenkäse.
»Keinen Halven Hahn, Frau Hahn?«, fragte sie spöttisch.
»Gibt›s hier nicht. Sie sprechen Kölsch?«
»Ich trink’s lieber hin und wieder«, antwortete sie lachend.
»Stimmt, unseren Dialekt kann man trinken.«
Nach