bei der Leiche stammt von unserer Webseite.
Sie traute den Augen nicht, und sie war nicht die Einzige. Sie sah es am Zeitstempel der nächsten Nachrichten. Auf die Enthüllung des Phantoms folgte eine längere Pause. Die Netzgemeinde reagierte ebenso verblüfft wie sie. Dann überstürzten sich die Meldungen.
Sie war versucht, Chris sofort anzurufen. Bei anderen Beamten des Polizeiapparates hatte sie dieses Verlangen nie gespürt. Das Telefon in der Hand, besann sie sich im letzten Augenblick anders. Chris und ihr Team mussten die Enthüllung auch gelesen haben. Im Unterschied zu ihr würden BKA und LKA allerdings nicht darüber berichten.
Eine Weile verfolgte sie die aufgeregten Reaktionen im Netz. Die anonyme Diskussion driftete schnell ab vom Motiv des Urteils, das sie auf der Webseite der Geschworenen entdeckt hatte, und konzentrierte sich auf das Phantom. Zwei Lager bekämpften sich verbissen, wobei die Gegner von Selbstjustiz, wie sie das Phantom offenbar betrieb, bald unterlagen. Lob, Unterstützung und Ansporn für das Phantom gewannen Oberhand. Die Emotionen schaukelten sich gegenseitig hoch und zwar in einem buchstäblich mörderischen Tempo. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie. Am liebsten hätte sie den Computer abgeschaltet, um Tim und Emma vom Zoo abzuholen. Die Suche nach dem nächsten Tweet von juri12 hinderte sie daran. Lange wartete sie vergeblich auf eine Reaktion der Geschworenen, während sie den Artikel zu schreiben begann. Die Geschworenen blieben stumm.
Berlin
»Ich kann den Scheiß nicht lesen«, schimpfte der Herr auf dem Rücksitz der Limousine. »Fahren Sie näher ran.«
Der Fahrer zögerte. »Das könnte gefährlich werden, Herr Minister.«
Bundesernährungsminister Hannes Lang wischte sich den Schweiß von der Stirn und krempelte die Ärmel hoch wie im früheren Leben vor dem Betreten des Stalls.
»Unsinn«, entgegnete er ärgerlich. »Das ist freie Meinungsäußerung, und ich will wissen, was die Leute zu sagen haben.«
»Wie Sie wünschen, Herr Minister.«
Eine ansehnliche Menschenmasse strömte trotz Nieselregen an diesem Samstagmorgen durch Berlin zum Regierungsviertel. Je näher die Glaskuppel des Reichstags rückte, desto gefährlicher wurde die Fahrt. Demonstranten skandierten dicht gedrängt ihre Slogans, ohne auf den Verkehr zu achten. Es ging nur im Schritttempo voran, wollten sie nicht Gefahr laufen, Leute über den Haufen zu fahren.
»Näher geht nicht«, meldete der Fahrer.
Der Minister öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit, um zu hören, was das Volk bewegte.
»Freihandel – Mordsschwindel!«, rief die Menge im Sprechchor immer wieder.
»Mordsschwindel«, wiederholte er lachend.
Der Rhythmus passte zu Freihandel, der Inhalt weniger. Als Schwindel würde er das geplante Abkommen nicht bezeichnen, eher als Katastrophe. Es musste verhindert werden. Da stimmte er den Demonstranten zu.
Der Zug stoppte. Der Fahrer musste anhalten. Aus dem Nichts flatterte ein rotes Flugblatt durch den Spalt in den Wagen. Es enthielt eine Auswahl der Sprüche auf den Transparenten.
Stoppt den Wahnsinn – Freihandel nein danke!
Kein Profit durch Kinderarbeit!
Globalisierung nützt nur Millionären!
Deutschland ausbluten durch Billigimporte?
China killt unsere Industrie!
Wollt ihr giftiges Gemüse?
Der Link zu Lotte Engels Webseite rahmte die Weisheiten fett gedruckt oben und unten ein. Schmunzelnd schloss er das Fenster, um den Lärm zu dämpfen. Er griff zum Telefon, um das Sekretariat zu warnen.
»Im Moment stecke ich in der Demo fest. Wird wohl etwas später. Wir müssen wenden und einen Umweg fahren.«
Es war zugleich das Zeichen für den Chauffeur, der die Anweisung mit dem zufriedenen Grinsen befolgte, das er selbst jedes Mal aufsetzte, wenn das Kanzleramt nach seiner Pfeife tanzte. Er faltete das Flugblatt sorgfältig zusammen, bevor er es einsteckte. Zitate aus dem Volksmund waren nie verkehrt an einer Kabinettssitzung, schon gar nicht an dieser Sondersitzung, deren einziger Verhandlungsgegenstand der unselige Plan für ein Freihandelsabkommen mit China war.
»Unglaublich, diese Engel«, brummte der Chauffeur, während er die Demo weiträumig zu umfahren versuchte.
Er wusste, was der Mann meinte. Lotte Engel brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, um das halbe Volk zu mobilisieren, dem Internet sei Dank. Wie schaffte die Frau das? Sie vertrat eine radikal linke Politik. Das konnte doch nicht der neue deutsche Traum sein. Und weshalb blieben bei seinen Veranstaltungen halbe Säle leer? Ernährungsminister Hannes Lang stand schließlich für bodenständige Vernunft. Dafür hatte ihn das Parlament gewählt.
Immer neue Busladungen von Demonstranten mit Transparenten, Tröten und Megafonen strömten von allen Seiten zum Platz der Republik. Die Limousine hatte die Spree überquert und näherte sich nun am rechten Ufer entlang dem Ziel. Es war die falsche Entscheidung gewesen. Unvermittelt sahen sie sich von vermummten Gestalten in schwarzer Kleidung umringt. Die Schlagstöcke und Baseballschläger waren nicht zu übersehen. Der Chauffeur fluchte, legte den Rückwärtsgang ein. Zu spät, es gab kein Entkommen mehr. Der erste Schlag zertrümmerte die Heckscheibe. Panik ergriff beide. Sie schrien ins Telefon.
»Wo bleibt die Polizei?«, brüllte er den Fahrer an.
Er hätte auf ihn hören sollen am Morgen, als er die Eskorte vorgeschlagen hatte wegen der Demo.
»Autonome des schwarzen Blocks greifen uns an!«, schrie der Fahrer ins Telefon.
Der nächste Schlag traf die Frontscheibe genau vor seiner Nase. Das Sicherheitsglas zerplatzte in tausend Splitter und verwandelte die Scheibe in undurchsichtiges Milchglas. Die schwere Limousine begann zu wanken, als bebte die Erde. Er prallte hart an die Tür, fiel auf den Sitz zurück, verrenkte sich den Arm dabei, dass er vor Schmerz laut aufschrie.
»Sind Sie verletzt?«, unterbrach der Fahrer das Geschrei mit der Notrufzentrale.
Der Wagen wankte nun bedenklich. Die Scheißkerle würden es noch schaffen, ihn umzukippen. Mehr als ein Dutzend Vermummte beteiligten sich jetzt am Spaß, skandierten rhythmische Schlachtrufe, als wollten sie den Teufel austreiben.
»Die fackeln uns ab!«, brüllte der Fahrer wie am Spieß.
Der Kerl mit dem Feuerzeug und der Flasche stand keine fünf Meter entfernt. Statt zu werfen, ließ er den Molotowcocktail plötzlich fallen und gab Fersengeld. Die Spaßvögel am Auto folgten ihm augenblicklich. Sekunden später stand die Limousine verlassen auf der Straße, Scheiben geborsten, Motorhaube und Kotflügel verbeult, als hätte sie ein Dieb nach missglückter Spritztour dort als Schrott abgestellt. Sein Tinnitus flaute ab. Jetzt hörte auch er die Sirenen der heranrückenden Kavallerie.
Abwesend ließ er sich zum Rettungswagen führen. Die Fragen der Ärztin beantwortete er mechanisch. Er wunderte sich, wie die Lage in so kurzer Zeit derart eskalieren konnte. Das erste Mal in seinem Leben war er ernsthaft körperlich bedroht worden. Ein Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit erfasste ihn.
»Herr Minister?«
Sein Fahrer wartete auf eine Antwort.
»Wie bitte? Entschuldigen Sie, wie war die Frage?«
»Soll ich sofort einen neuen Wagen anfordern oder möchten Sie mit dem Streifenwagen …«
»Streifenwagen ist in Ordnung. Kümmern Sie sich um den Dienstwagen. Sind Sie in Ordnung?«
Der Fahrer nickte und entfernte sich.
»Sie haben einen Schock erlitten, Herr Minister«, stellte die Ärztin fest. »Sie sollten sich jetzt schonen und von Ihrem Arzt gründlich untersuchen lassen.«
»Ich bin in Ordnung, danke.« Er blickte sich