Hansjörg Anderegg

Staatsfeinde


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was wollen Sie von mir wissen, Kommissarin?«

      »Einfach Chris. Erzählen Sie mir alles, was Sie über die Geschworenen recherchiert haben.«

      Überrascht beobachtete sie, wie Julias Gesichtszüge sich entspannten. Der latente Weltschmerz wich aus ihren Augen und ein Lächeln umspielte ihren Mund.

      »Schön, dass sich endlich jemand von der Polizei dafür interessiert«, sagte sie. »Ihr Kollege Fischer wollte nämlich gar nichts von den Geschworenen wissen, als ich ihn danach fragte.«

      »Aus ermittlungstechnischen Gründen nehme ich an«, entgegnete sie vorsichtig.

      »Papperlapapp. Er führt einfach seinen Privatkrieg gegen die Presse, haut lieber bei Martin auf den Tisch, statt mit mir zu sprechen.«

      »Das war ja nicht zu überhören«, warf sie schmunzelnd ein, um Julias neu aufkeimenden Ärger zu dämpfen. »Worüber hat sich Kollege Fischer denn beschwert? Mir ist jedenfalls nichts Anstößiges aufgefallen in Ihrem Bericht.«

      Julia zögerte, sah ihr in die Augen, fand auch nichts Anstößiges darin und beantwortete die Frage.

      »Es geht um Stein, denke ich.«

      »Welchen Stein?«, fuhr sie überrascht auf.

      Wie konnte die Presse vom Stein auf dem Zettel der Geschworenen Wind bekommen haben? In Julias Artikel stand nichts davon.

      »Stein Communications, John Steins PR-Agentur.«

      »Ach so.«

      Im Bericht war nur von der bekannten Kölner PR-Agentur die Rede. Die wäre spezialisiert auf kompromisslose Kampagnen im Netz unter anderem im Auftrag der Automobilindustrie. Die Tweets der Geschworenen wiesen verblüffende Parallelen auf zu diesem professionellen Vorbild. Chris fand es gewagt, diese Parallele im Bericht aufzuzeigen, aber Julia lieferte eindrückliche Beispiele, welche die These belegten.

      »Steins Agentur dient also als Vorbild für die Kampagne der Geschworenen?«

      Julia nickte. »Alles deutet darauf hin.« Sie schaufelte mit Heißhunger eine Gabel Tortelloni in den Mund, bevor sie weiterfuhr. »John Stein ist ein skrupelloser Geschäftsmann. Jeder in dieser Region weiß das. Seine Kampagne gegen strengere Normen für Feinstaub war grenzwertig. Befürworter kamen sich am Ende vor wie Mörder von Bauern und Totengräber des Transportgewerbes.«

      »Stein war das also«, murmelte Chris nachdenklich. »Sie vermuten aber noch mehr hinter dem gleichartigen Vorgehen.«

      Julia zuckte die Achseln, räumte den Teller leer und wischte sich den Mund ab. »Meine Vermutungen stehen hier nicht zur Diskussion. Wenn ich Beweise hätte für eine Verbindung zwischen Steins Agentur und den Geschworenen, stünde das im Bericht. Darauf können Sie sich verlassen.«

      Chris beobachtete ihr Mienenspiel genau. Es gab keinen Anlass, ihrer Aussage nicht zu trauen. Dennoch schärfte sie ihr ein:

      »Wenn Sie mehr über die Geschworenen wissen, müssen Sie es mir sagen, Julia …«

      »Sonst mache ich mich strafbar, blabla, ich weiß. Das ist alles. Ich frage mich nur, weshalb das LKA so ein Geheimnis macht um die Geschworenen. Fragen dazu werden nicht beantwortet, auch nicht an der Pressekonferenz.«

      Chris blieb die Antwort schuldig. Im Moment war nicht mehr aus der Journalistin herauszuholen, schloss sie. Nach dem Essen verabschiedete sie sich rasch, obwohl sie gerne mehr über Julia erfahren hätte. Die Frau faszinierte sie. Das versetzte sie in eine überraschend gute Stimmung auf der Fahrt zurück nach Düsseldorf. Die Stunde Fahrzeit reichte, um alles aufzusaugen, was Haase über John Stein und seine PR-Agentur in Erfahrung bringen konnte. Als sie den Wagen auf den Parkplatz des Landeskriminalamtes fuhr, glaubte sie, den Grund zu kennen, weshalb sich Fischer gegen jede Anspielung auf Steins Agentur im Zusammenhang mit dem Fall verwahrte. Fischer und Stein waren alte Kumpels und seit Langem Mitglieder im selben Schützenverein.

      Köln

      Was hatte die Berliner Kommissarin an sich, dass sie ihr nicht mehr aus dem Kopf ging, fragte sich Julia. Es fiel ihr schwer, sich nach dem Essen im Funkhaus wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Obwohl sie im Grunde nur kurz miteinander gesprochen hatten, fühlte sie sich mit Chris verbunden, als wären sie alte Bekannte, bereit, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen. Bereit, den Fall der Geschworenen gemeinsam zu lösen? Was bildete sie sich ein? Chris war sicher eine erfahrene Ermittlerin des Bundeskriminalamts. Das BKA besaß alle Ressourcen, um diesen Hetzern auf die Spur zu kommen, sie verfügte nur über Internet, ein paar gute Beziehungen und Intuition. Verbissene Entschlossenheit gehörte auch dazu, aber das galt auch für Chris. Die Frau gab ihr mehr Rätsel auf, je länger sie über sie nachdachte. Wie konnte so ein sinnliches Mädchen – das war sie, keine Frage – den harten Job in der höchsten Mordkommission der Republik aushalten? Eines Tages müsste sie genau diesem Widerspruch auf den Grund gehen. Sorgsam, als wäre sie zerbrechlich, steckte sie die Visitenkarte der Kommissarin, die noch immer auf dem Tisch lag, in die Brieftasche.

      Martins Krücke pochte an die Scheibe der Sauna. Er winkte sie herbei.

      »Was hast du ihr gesagt?«, fragte er im väterlichen Ton, den er gewöhnlich benutzte, wenn sie allein waren.

      Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts, die Wahrheit.«

      Er wartete mit lauerndem Blick.

      »Nichts über den Freihandel, falls du das fürchtest.«

      Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich fürchte nicht einmal das Kantinenfutter, wie du weißt. Ich will bloß nicht den Ruf des Blattes als seriöse Presse verspielen, indem wir Spekulationen verbreiten. Verstehst du das?«

      Sie dachte an Chris und lächelte entspannt. Der Trick erwies sich als todsichere Methode, um Stress abzubauen, was sie noch mehr erheiterte.

      »Mache ich Witze?«

      »Entschuldige, es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge, Martin. Sie wollte wissen, weshalb ich so ausgerastet bin nach Fischers Anruf bei dir.«

      »Das wüsste ich allerdings auch gern. Wir beide kennen Kommissar Fischer doch lange genug, um zu wissen, was wir ernst zu nehmen haben und was nur heiße Luft ist.«

      »Wenn das nur heiße Luft war, warum sagst du es mir dann überhaupt?«

      Sie war nun doch im Begriff, sich wieder aufzuregen.

      »Weil wir uns vertrauen, Julia, ohne Einschränkungen.«

      Die Antwort gefiel ihr, was den Ärger über Fischer allerdings nicht verminderte. »Etwas an ihm treibt mich einfach jedes Mal zur Weißglut«, sagte sie wie zu sich selbst.

      »Fischer? Denk an etwas Schönes beim nächsten Interview.«

      Sie kannte jetzt eine Methode. »Ich werde es versuchen. Was mich aber schon wundert, ist seine Beziehung zu John Stein. Weshalb regt er sich so auf, weil wir die PR-Agentur erwähnen?«

      Martin zuckte die Achseln. »Ich denke, das interessiert uns im Augenblick nicht. Der Fokus bleibt auf den zu erwartenden nächsten Zügen der Geschworenen.«

      »Klar, Chef.«

      Sie wandte sich zum Gehen.

      »Haben wir uns verstanden?«, fragte er zur Sicherheit.

      Er misstraute jedem Satz, den sie mit Chef abschloss, und das üblicherweise mit gutem Grund.

      »Klar, Martin«, antwortete sie lächelnd, um ihn zu beruhigen.

      Sie setzte sich an den Computer, um die Tweets zu #dieGeschworenen nochmals genau anzusehen. Eine Stunde lang vergaß sie alles um sich herum, versunken im Netz, einer Parallelwelt, die für viele Menschen zur einzig maßgebenden Wirklichkeit geworden war. Der Anruf aus der Kita schreckte sie auf. Solche Anrufe waren die schlimmsten. Die Hand zitterte, als sie auf Empfang drückte.

      »Ist was mit Tim?«, fragte sie kaum hörbar.

      »Mama!«

      »Gott sei Dank!