Der Kellner trägt drei große Teller zu meinem Tisch und ich studiere die Auflage. Ein Berg Sauerkraut, das herrlich duftet, daneben ein Leberknödel. Kesselfleisch und hausgemachte Wurst, gekocht wie gebraten, liegen heiß auf dem Teller. Dazu gibt es frisch gebackenes Bauernbrot und Senf in Töpfchen gefüllt. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, aber ich kann noch nicht loslegen.
Mit viel Trara verfrachten die Mädchen den kleinen Mann samt Hut und Bierkrug an unseren Tisch.
„Das ist der Ernst. Auch ein 38er!“, jubelt Ulla und himmelt den Mann an meiner Linken an.
Der Kellner bringt einen vierten Teller, ebenfalls eine Schlachtplatte, steuert zuerst den verlassenen Tisch an, sieht den Gast dann aber bei uns und bringt ihm den Teller. Weiterer Jubel schallt durch den Garten, als die 38er die Übereinstimmung der Speisen erkennen und dann prosten sie sich zu, dass die Gläser knirschen.
Ernst erhebt sich noch einmal und wieder muss ich das Besteck aus der Hand legen, weil ich eine Ansprache befürchte. Doch Ernst reicht mir die Hand, dreht die meine um und haucht ein Küsschen darauf.
„Ernst Gotterbarm!“, stellt er sich vor und ich nenne meinen Namen. Dann erst darf ich essen.
Ich beschließe nie mehr mit Gretchen hierher nach Speyer zu fahren, das ist mir zu stressig. Mit zwei so alten Schachteln kann eine so junge Frau, wie ich es bin, nicht mehr Schritt halten.
Mit Messer und Gabel bewaffnet gestikulierend, ist Ulla ins Gespräch mit Ernst, über die Ereignisse des Morgens vertieft. Gretchen übersetzt unverständliche Gesprächspassagen für mich ins Holländische, damit ich nahtlos folgen kann.
Ernst kann seinen Blick gar nicht mehr von Ulla losreißen und sein Schnurrbart ist bereits mit reichlich Senf und Sauerkraut behängt, weil er nicht sieht, wohin er seine Gabel schiebt.
„Also, alles kurz und knapp geschildert, ergeben meine Recherchen folgendes Bild!“, erläutert Ulla ihrem Zuhörer.
„Die Liesel Bäcker war das erste Opfer, mit einem Draht erdrosselt, der das Fleisch bis zur Wirbelsäule durchschnitt. Sie kam vom Kloster allein die Stuhlbrudergasse herauf, schob ihr Fahrrad und wurde auf der Höhe der Bäckerei Höchemer von hinten ermordet. Keine Zeugen, keine Geräusche, kein Raub, kein Sexualverbrechen. Als der Bäcker seinen Laden öffnet, findet er die Nonne im Rinnstein und ruft die Polizei. Das war am Montagmorgen.
Das zweite Opfer, die Maria Steiger, geht am Dientagabend, wie jeden Abend, nach der Vesper durch den Klostergarten und prüft, dass alle Schlösser verschlossen sind. Am Fahrradschuppen trifft sie auf ihren Mörder - Schlinge zu, Kopf ab.
Eine Mitschwester findet die Maria kurz darauf und alarmiert die Polizei, aber erneut nur wenig Spuren und kein Hinweis auf den Täter“.
Empörte Blicke von den Nachbartischen, die den lauten Worten Ullas gelauscht haben, werden von den 38ern schlichtweg ignoriert. Sie sind in ihrem Element.
Ich schaue nur gelegentlich von meiner Schlachtplatte auf und betrachte kauend das Sudhaus, in dem die hauseigene Brauerei den wunderbaren Gerstensaft braut.
„Ich erfuhr das Drama noch am selben Abend und rief das Gretchen zu Hilfe, erstens, weil die eine 38er und zweitens mit der Inger befreundet ist!“, womit sie auf mich deutet und alle meine Befürchtungen bestätigt. Zerknirscht lausche ich und bestelle ein weiteres Bier.
„Was du nicht wissen kannst, die Inger ist doch eine Polizeipsychologin!“, wobei sich Ulla verschwörerisch zu Ernst über den Tisch beugt und ihm mit ihrer Gabel beinahe in die Nase sticht.
„Das Mädchen ist berühmt, sag ich dir, hat noch jeden Fall gelöst, der ihr vor die Nase kam. Ein echtes Naturtalent als Profilerin. Nur zu blöd, dass sie es hier nicht mehr tun will, weil die deutschen Behörden ihre eigenen Leute haben. Aber ich arbeite daran, das darfst du mir glauben!“
Drei alte Augenpaare blitzen mir wie auf Kommando zu, als ob ich eine Bosheit getan hätte. Vergebens lange ich nach meinem Stein und finde ihn nicht, weil ihn der Kellner mitgenommen hat. Verlegen rühre ich im Rest Sauerkraut, als ob ich eine Perle darin finden könnte.
„Weiter im Text. Am Mittwochabend, also gestern, telefonierte ich noch mit Oskar, dass er auf der Hut sein solle und das ich mit Verstärkung käme, um ihm alles Nähere zu erklären. Doch als wir eintrafen, Gretchen, Inger und ich, war die Haustür nur angelehnt und was fanden wir im Wohnzimmer?“
Gebannt lauschen die Gäste an den anderen Tischen und so mancher hat den Kopf in Ullas Richtung gebeugt, um ja nichts zu verpassen.
„Den Oskar, auch erdrosselt bis der Kopf ab war, mit einem Draht, auch ein 38er, auch ein ehemaliger Lehrer des Klosters zur hl. Bernadette.
Halten wir die Gemeinsamkeiten fest:
Alle drei waren 38er.
Alle waren Lehrer oder Lehrerinnen im Kloster.
Alle wohnten sie in Speyer, Nähe Dom, Nähe Kloster.
Alle waren, auf Neudeutsch gesagt: Single.
Alle waren gute, unauffällige Bürger der Stadt.
Alle wurden auf dieselbe Weise getötet.
Von wem? Warum? Und vor allem, wer noch?“
Jetzt erhebe auch ich wieder meine Augen. Was soll diese unmögliche Frage? Grete sperrt ungläubig den Mund auf, schweigt aber fassungslos. Ernst starrt Ulla an und deutet mit dem Zeigefinger auf ihren Busen und stammelt:
„He Mädchen, du warst doch auch Lehrerin im Kloster. Du bist auch eine 38er. Du wohnst auch hier in der Nähe und bist Single. Und wenn meine Recherchen all die Jahre stimmen, dann warst auch du immer ein braves Mädchen, nicht wahr?“
Ulla bestätigt mit einem majestätischen Kopfnicken. Grete schlägt die Hände vor ihren Mund. Ernst rauft sich erregt die Haare und stöhnt.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und forsche in Ullas Gesicht. Sie muss übergeschnappt sein, denke ich bei mir, aber ich sehe nichts dergleichen in ihren Ausdruck.
„Nun, Mädchen meiner Träume!“, ruft Ernst in die aufgekommene Stille.
„Ich weiche ab jetzt nicht mehr von deiner Seite. Betrachte mich als deinen Bodyguard und verfüge über mich. Ich niste mich in deinem Gemäuer ein, schlaf auch auf deinem Bettvorleger, wenn du das forderst, aber du gehst keinen Schritt mehr ohne mich, verstehst du, das ist ein Befehl!“
Erleichtertes Gekichere schlägt ihm entgegen, was nicht zuletzt vom Bier herrührt, das wir alle intus haben. Doch bevor Ernst enttäuscht dreinschauen kann, hält ihm Ulla die Hand vor die magere Brust und sie beschließen den Pakt gegen Tod und Teufel.
Gretchen ist gerührt vor Glück. Mit einem Blick zur Uhr stellt Ulla fest, dass es Zeit für einen Schönheitsschlaf ist und sie bezahlt die Zeche.
Wie Kadetten folgen wir dem Käp’ten zum Hof hinaus, leicht schwankend vom Speyerer Bier.
Ernst holt seinen Koffer und den guten Anzug aus dem Wagen, der auf dem Domparkplatz steht und dann tauchen wir in die Kühle von Ullas Haus ein.
Stimmen wecken mich. Die Kirchenuhren schlagen sieben Mal. In Ullas Wohnung herrscht Hochbetrieb, alle laufen hin und her.
Im Wohnzimmer treffe ich auf die anderen Bewohner, die sich bereits in Schale geworfen haben für das bevorstehende Klassentreffen. Ulla rückt Ernst die Krawatte zurecht, zieht hier am Kragen und dort an einem Ärmel. Prüft, ob sein Scheitel durch die wenigen Haare gerade gezogen ist und er hält grinsend still wie ein Lämmchen.
Grete sitzt am großen Tisch und sortiert die Handtaschen um, wobei mein Blick auf ihre Waffe fällt.
„Holla Mädchen, hast du dafür auch einen Waffenschein?“, frage ich neugierig und sofort steht Ernst neben mir wie ein Wachhund in Habachtstellung.
„Uiii!“, ist sein ganzer Kommentar und mit Daumen und Zeigefinger nimmt er die Waffe hoch vor die Augen und dreht sie im Licht.
„Natürlich