W. W. Pook

Speyerer Altlasten


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im Hause haben muss, meiner verbliebenen Krebspatienten wegen, muss ich eine Waffe haben und regelmäßige Schießübungen ablegen. Die Beamten selbst haben mich beraten, nachdem mein Mann gestorben war, denn das Vorgängermodell war mir viel zu schwer geworden!“

      „Das ist eine Pony-Pocketlite, wenn ich mich nicht irre. 9 mm kurz, 6 Patronenmagazin, 370 Gramm schwer!“, stellt Ulla fest und nimmt die Pistole an sich. Sie dreht und wendet das Modell in ihren Händen, als würde sie tagtäglich nichts anderes tun.

      Ernst und ich staunen. Dann nimmt Ulla ihre Handtasche und genehmigt uns einen Blick auf ihre Waffe. Ernst fällt die Kinnlade herab und ihm entwischt ein fassungsloses:

      „Mädchen?“, das gleichzeitig Hochachtung und Bewunderung ausdrückt. In der Hand hält sie eine Mini-Gun von Smith & Wesson, 9 mm, 8+1 Patronen, 705 Gramm schwer.

      „Extra für Linkshänderinnen, wie ich eine bin!“, ergänzt Ulla mit Stolz und steckt die Waffe in die Handtasche, die sie für das Klassentreffen ausgewählt hat.

      Für den Abend steht mein Entschluss fest. Ich suche mir im Domnapf einen ruhigen Tisch im Freien, mit Direktblick auf den Dom, wähle aus der Weinkarte einen lieblichen Weißherbst, der rosé in der Abendsonne glänzt.

      Meine Alten sind im Nebenzimmer des Gasthauses verschwunden und ich genieße es zutiefst, endlich allein zu sein.

      Die vielen Gäste um mich herum stören mich wenig, denn das Stimmengewirr aus Dialekten und anderen Sprachen ist beinahe wie Musik, die im Hintergrund abläuft.

      Meine neuen Basler Sandalen habe ich gegen ein Paar leichte Lederschuhe getauscht und jetzt bewege ich genüsslich die Zehen unter dem Tisch.

      Während ich den ersten Schluck Wein in meinem Mund schwenke, so wie Maarten mir das beibrachte, fällt ein Schatten über meinen Tisch und ich blicke erstaunt in die braunen Augen der Polizistin vom Morgen.

      „Darf ich mich zu Ihnen setzen, Frau Babajaga?“

      Mit der Hand weise ich auf einen freien Stuhl zu meiner Rechten und sie setzt sich und legt ihre Mütze auf den Tisch. Neugierig erwarte ich weitere Worte aus ihrem Mund und sie winkt den Kellner fort, der nach ihrer Bestellung fragen will.

      „Mein Name ist Reinhard. Kriminalkommissarin Claudia Reinhard von der Kriminalpolizei Ludwigshafen. Meine Abteilung schaltet sich immer ein, wenn im Umkreis mehrere Morde geschehen!“, flüstert die junge Frau und fixiert mich berufsmäßig, aber freundlich.

      Still lausche ich auf die nächsten Worte, denn die Botschaft ihrer Anwesenheit liegt offen auf der Hand, die Kripo ist neugierig auf mich geworden.

      „Nach unserer Begegnung im Klostergarten sprach ich mit meinem Chef, Heiner Specht, über Sie und Ihre Fähigkeiten. Wir fragen uns, ob Sie vielleicht gewillt sind, mich nach Ludwigshafen zu begleiten und über Ihre Arbeit in Holland zu berichten, dass wir uns ein Bild machen können, wie die holländischen Kollegen arbeiten“.

      Ein Lächeln huscht über mein Gesicht und ich drücke mich entspannt an die Stuhllehne. Mir ist sofort klar, dass hinter der netten Anfrage mehr steckt als die Beamtin preisgibt und in Anbetracht der fortgeschrittenen Tageszeit kein Referat über die Arbeit der holländischen Profiler gewünscht wird.

      Noch einmal nippe ich an dem Weißherbst und bedauere bereits, das fast volle Glas zurückzulassen.

      Ich winke dem Kellner, bezahle den Wein und schreibe für Gretchen im Nebenzimmer eine Notiz, wo ich abgeblieben bin.

      Während der Fahrt nach Ludwigshafen bleibe ich wortkarg und sortiere meine Gedanken. Meine Blicke wandern über die Äcker und ich versuche die großen Hinweisschilder zu lesen, die an der B9 aufgestellt sind. Sie kündigen eine Sonderausstellung im historischen Museum an, die zeitgleich mit dem Brezelfest eröffnet werden soll. Mehr verstehe ich im Vorbeifahren nicht, aber Ulla wird mich bestens informieren, wenn ich sie frage. Da bin ich mir sicher.

      Claudia Reinhard führt mich in ein Büro, das für Gäste eingerichtet ist. Zwei Orchideen blühen auf der Fensterbank und ein massiger Philodendron beherrscht eine ganze Wand. Seine langen Luftwurzeln und die riesigen Blätter sehen gesund aus und strotzen nur so vor Kraft.

      Ein Tisch und mehrere Stühle bilden das Zentrum und aus der kleine Küche dringt Kaffeeduft zu mir herüber.

      Nach einem Anruf erscheint der Chef der Abteilung, Kriminaloberkommissar Heiner Specht. Er setzt sich mir gegenüber. Lächelnd nimmt er das Gespräch auf, wobei er sich vorsichtig an sein Vorhaben herantastet.

      „Waren sie schon oft bei der Kripo? Die meisten Besucher empfinden ein Unbehagen, auch wenn sie nur als Gäste hier herkommen“, fragt mich der Mittfünfziger, wie ich tippe. Er trägt Anzug und Krawatte, ist sauber rasiert, frisiert und er riecht wie frisch geduscht.

      „Ich fühle mich recht wohl hier und um ihre Frage zu beantworten, ja, ich fühle kein Unbehagen und auch keine Befangenheit, weil Sie Polizeibeamte sind. Des Weiteren habe auch ich lesen gelernt und sehe eine Akte mit meinem Namen vor Ihnen liegen. Sie haben sich bereits über mich erkundigt?“, frage ich gerade heraus, denn das ist meine Art.

      „Kollegin Reinhard hat das getan und ihr verdanken Sie auch die späte Einladung. Offen gestanden treten wir auf der Stelle“, gibt der Beamte zu verstehen und ich nicke.

      Frau Reinhard reicht mir eine Tasse Kaffee und ich nehme mir Milch und Zucker.

      „Ich arbeite mit dem Verstand, mit Fakten, Beweisen und mit nachprüfbaren wissenschaftlichen Ergebnissen, so wie ich das auf der Polizeischule gelernt habe. Es stehen mir auch Profiler wie Sie zur Seite, aber dennoch ist Kollegin Reinhard von Ihrer Einmaligkeit überzeugt!“

      Mit beiden Händen reibt er sich das Gesicht und den Hals, denn die Müdigkeit sitzt ihm sichtlich im Genick. Ich atme mehrmals tief ein und aus und beschließe dann, ihm meine Hilfe zukommen zu lassen.

      „Wenn ich die ganze Situation, die Fragen, die Andeutungen und ihre müden Gesichter recht interpretiere, dann haben Sie eine weitere Leiche und noch immer keinen Hinweis auf den Täter!“, sage ich und alle Blicke sind auf mich gerichtet.

      „Man muss keine Psychologin aus Holland sein, um sich nicht an fünf Fingern abzählen zu können, warum Sie mich hergebeten haben!“

      Reinhard übernimmt erstaunt das Gespräch.

      „Wie kommen Sie zu so einem weitreichenden Schluss? Ist das Erfahrung oder Können oder haben Sie Informationen, die wir nicht haben?“

      „Sagen wir es einfach so: Ich kann zwei und zwei schneller zusammenrechnen als andere Menschen. Ich sehe Dinge, die Kollegen verborgen bleiben und Ulla Erler sagte gestern Abend sehr deutlich zu Ihrem Chef, dass sie mit weiteren Morden rechnet!“

      Reinhard macht ein mürrisches Gesicht.

      „Aber wie genau machen Sie das, erklären Sie mir den Unterschied zwischen Ihnen und unseren Profilern!“

      Ein Lächeln zieht sich über mein Gesicht, denn das ist die Frage der Fragen schlechthin. Wie sollte man etwas erklären, das man schon immer kann, aber andere Menschen eben nicht. Ich bemühe mich um eine einfache Antwort, die der Beamtin ermöglicht mich zu verstehen, ohne mich merkwürdig zu finden oder mich gar zu glorifizieren.

      „Das Ganze beruht auf einer Sensibilität, die mir meine Mutter vererbte. Ich lese in den Gesichtern, in Mimik und Gestik, stricke meine alten Erfahrungen hinein. Als Muster stehen mir die alten Psychologen und ihre Weisheiten zur Seite und ich erarbeite mir eine überprüfbare Theorie, der ich dann folge, bis sozusagen ein gestrickter Pullover vor mir liegt!“

      Reinhard versteht die bildhafte Erklärung, während Specht noch an der Erkenntnis kaut.

      „Ich gestehe, vom Stricken keine Ahnung zu haben! Das brauche ich in meiner Position auch nicht.“, verkündet Heiner Specht resigniert.

      „Was mich dazu veranlasst hat, Sie hierher zu bitten ist vor allem der Druck, den der bischöfliche Stuhl in Speyer auf diese Behörde ausübt. Es gilt die gewaltsamen Tode zweier Nonnen endlich aufzuklären, deren Beerdigung bereits