Benjamin Alire Saenz

Alles beginnt und endet im Kentucky Club


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Eltern gehalten hatte, dass er ganze zwölf Jahre lang an den Wochenenden nach Hause gefahren war, um bei seiner Mutter zu sein, einer Sozialarbeiterin, die sich leidenschaftlich für Transvestiten eingesetzt hatte, wie sein Vater umgebracht worden war und vielleicht eine weitere Familie in Chicago oder Los Angeles oder Chihuahua zurückgelassen hatte (ich war nicht der einzige, der sich Geschichten über andere Leute ausdachte). Dass seine Tante an Krebs gestorben war und er seinem Onkel geholfen hatte, sich um alles zu kümmern, und dass er sich jetzt um ihn kümmerte. Aber nur an den Wochenenden.

      »Hast du ihn gern?«

      »Er war gut zu mir. Meine Tante war streng, aber er nicht. Er war weich. Kann man das so sagen? Weich?«

      »Sanft, ja.« Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn. Mein Gott, wie schön er war. Dies war nicht bloß eine Geschichte, die ich mir ausdachte.

      »Meine Tante, die mochte ich nicht.« Er zog eine Zigarette aus der Tasche. »Stört dich das?«

      »Nein, überhaupt nicht.«

      »Willst du auch eine?«

      »Ich hab vor Jahren aufgehört.«

      »Warum?«

      »Weiß nicht mehr.«

      »Bist du einer, der bei gewissen Dingen unter Gedächtnisschwund leidet?«

      »Cuando me conviene.« Er lachte.

      Ich sah zu, wie er sich die Zigarette anzündete. Und erinnerte mich daran, wie einmal eine Frau in einer Bar auf mich zugekommen war, als ich gerade eine Zigarette rauchte, und mir gesagt hatte, ich sei schön. Sie küsste mich. Ich ließ ihre Zunge eine ganze Weile in meinem Mund. Sie schmeckte nach Cognac und Kirschen.

      Er blies den Rauch aus der Nase. »Bist du sicher, dass du nicht wieder mit dem Rauchen anfangen willst?«

      »Ja. Ich will etwas Neues anfangen, etwas, das ich noch nie gemacht habe.« Ich sah ihm beim Rauchen zu. »Du hast deine Tante also nicht gemocht.«

      »Ich hab sie nicht gemocht – aber ich hab sie geliebt. Sie war so streng gegenüber anderen.«

      »Manche Leute sind so«, sagte ich.

      »Du nicht«, sagte er.

      »Woher willst du das wissen?«

      »Ich hab deine Bücher gelesen.«

      »Das sind bloß Bücher. Du weißt nichts über mich.«

      Er drückte seine Zigarette aus. Fuhr mit den Fingern durch mein grau meliertes Haar. Dann küsste er mich. »Ich denke mir Geschichten über dich aus«, sagte er.

      Heute wünschte ich, ich hätte ihm erzählt, dass auch ich mir Geschichten über ihn ausdachte.

      5

      »¿Tienes hambre? Ich könnte etwas kochen.«

      »Irgendwie wusste ich, dass du gern kochst.«

      »Gehört das zu den Dingen, die du dir ausgedacht hast?«

      »Nein, aber in deinen Büchern wird immer viel gekocht.«

      »Tja, alle müssen essen. Sogar die Leute in Romanen.« Er lachte. »Ich mag die Leute in deinen Romanen.«

      »Die meisten von denen sind am Arsch.«

      »Gerade das mag ich an ihnen.« Er schaute auf seine Uhr.

      »Eine schöne Uhr.«

      »Sie hat meinem Vater gehört.«

      »Musst du los?«

      Er nickte. »Zurück zu meinem Onkel. Wir essen jeden Sonntag zusammen.«

      »Gehst du mit ihm essen?«

      »Die Zeiten sind vorbei. Dabei ist er immer gern ausgegangen. Hat viel gelacht und mir erzählt, wie das Leben früher für ihn war. Jetzt bleibt er zu Hause. Weil er Angst hat. Früher hatte er vor nichts Angst, nur vor meiner Tante. Jetzt ist er wie ein kleiner Junge. Er jammert. Er liest Zeitung. Er glaubt, er sei in Juárez. Ich erkläre ihm, dass wir in El Paso sind, dass er in Sicherheit ist. Aber er glaubt mir nicht. Er hat Angst, das Haus zu verlassen. Nos matan, sagt er. Ich versuche ihm zu erklären, dass niemand uns etwas antun wird – aber es ist sinnlos. Jedes Mal, wenn ich fortgehe, sagt er mir, ich soll aufpassen.«

      »Und das tust du?«

      »Ich habe keine Angst, umgebracht zu werden. Du etwa?«

      »Ich lebe nicht in Juárez.«

      »Morde gibt’s in jeder Stadt.«

      Ich wollte mich nicht streiten. Nicht über so etwas. Was brachte das schon? Und er kannte Juárez besser als ich. »Du hast recht«, sagte ich.

      »Gerade hab ich noch etwas über dich gelernt.«

      »Was denn?«

      »Du lügst nicht besonders gut.«

      »Das war mal anders.« Ich fragte mich, was von meinem Gesicht abzulesen war. »Ich an deiner Stelle hätte Angst, glaube ich.«

      »Was nützt es, Angst zu haben, Carlos?«

      »Überhaupt nichts«, sagte ich. Er sah mich prüfend an.

      Ich hatte Lust, ihn noch einmal zu küssen. Vielleicht würde er den Kuss erwidern. Vielleicht würde ich mir auch nur wie ein totaler Idiot vorkommen. Ich konnte so etwas einfach nicht. Hatte es noch nie gekonnt. Manche Männer ließen sich mit Anmut auf die Liebe ein. Ich war zaghaft und unbeholfen.

      »Was ist?« Er sah mich an.

      »Gar nichts.«

      »Du hast mich schon wieder beobachtet.«

      »Ja.«

      »Es macht mir nichts aus. Mir gefällt es, wie du mich ansiehst.«

      »Ich könnte dich immer so ansehen«, sagte ich.

      »Du kannst mich noch mal küssen«, sagte er.

      Er neigte den Kopf und blickte zu Boden. Er war schüchtern, vielleicht auch nur bescheiden. Das war das Einzige an ihm, was ich mir nicht ausdenken konnte – dass er bescheiden war. Dass er freundlich war. Dass er anständig war. Gutaussehende Männer hatten selten diese Eigenschaften.

      Ich küsste ihn noch einmal.

      Er flüsterte meinen Namen. Ich fragte mich, wie sich mein Name auf seiner Zunge anfühlte.

      »Javier«, flüsterte ich zurück. »Weißt du, wie lange es her ist, dass ich jemanden geküsst habe?«

      Er blickte zu mir hoch. »Spielt das denn eine Rolle?«

      »Küssen ist eine ernste Sache.«

      Er küsste mich wieder. »Das hat sich aber nicht so ernst angefühlt, oder?«

      »Doch«, sagte ich. »Oh doch.« Wir schwiegen eine ganze Weile.

      »Ich muss gehen«, flüsterte er. »Er wartet auf mich.«

      »Kochst du für ihn?«

      »Ja.«

      »Ich gebe zu, ich bin eifersüchtig auf deinen Onkel.«

      »Du bist kein eifersüchtiger Typ«, sagte er.

      »Vielleicht doch.«

      »Nein.«

      Er war sich so sicher, mich zu kennen. Ich wollte nicht, dass er ging. Er trat näher. Ich war im Begriff, etwas zu sagen, aber er legte mir einen Finger auf die Lippen. Ich wusste selbst nicht so genau, was ich sagen wollte. Und manchmal spielt es ohnehin keine Rolle, was man sagt. Es spielt einfach keine Rolle. Er wollte nicht, dass ich ihn hinfuhr. »Mein Onkel wohnt nicht weit von hier – ich gehe lieber zu Fuß.«

      Vielleicht