Benjamin Alire Saenz

Alles beginnt und endet im Kentucky Club


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er mir auch verhasst. Ich fühlte Javiers Atem an meinem Hals, fühlte die Worte, die er flüsterte: »Erzähl mir etwas von dir, das ich noch nicht weiß.«

      Also erzählte ich. Davon, dass meine beiden älteren Brüder bei einem Autounfall umgekommen waren, und dass sie zusammen sieben Kinder hinterlassen hatten. Sieben Kinder und zwei trauernde, untröstliche Frauen, die sie sehr geliebt hatten. Darüber, dass mein Vater jahrelang an Depressionen, hohem Blutdruck, Parkinson und Diabetes litt und dann einen Schlaganfall hatte, der zum Hirntod führte, und dass ich die Maschine abgestellt hatte, die ihn atmen ließ. Von der Frau, die ich geliebt, verletzt und verlassen hatte. Von dem Mann, der mich geliebt hatte und dessen Liebe zu erwidern ich nie mutig genug war. Von einer jungen Frau, der ich in London begegnet war und die so blaue Augen hatte wie der Sommerhimmel, und dass ich mich in diesen Augen verloren hatte, als ich mir einbildete, ein Mann zu sein, wo ich doch nichts weiter war als ein dummer Junge. Von meiner Zeit als Helfer bei der Zwiebelernte, lange bevor ich alt genug war für einen richtigen Job, und wie ich davon geträumt hatte, mehr im Leben zu sein als ein Arbeiter mit krummem Buckel. Von der Narbe auf meiner Brust, wo mir, dem unbekümmerten Jungen, der ich war, der Stacheldraht die Haut aufgerissen hatte, als wäre sie nichts weiter als ein Fetzen Papier.

      Ich merkte nicht einmal, dass ich weinte.

      Aber ich spürte seine Hand auf meinem Gesicht. »Tränen schmecken wie das Meer. Wusstest du das?«

      »Manchmal glaube ich, dass das Meer aus Tränen gemacht ist.«

      Er legte mir einen Finger auf die Lippen. »Dein Leben ist besser als das, was deine Romane beschreiben.«

      Ich nahm seine Hand, drehte sie nach innen, betrachtete sie. Ich richtete mich auf. »Meine Romane sind voll von schönen Männern. Männern, wie ich nie einer sein werde.«

      »Du bist nicht traurig. Nur verletzt.«

      »Wir sind alle schon mal verletzt worden.«

      Dann zogen wir einander aus. Er fuhr mit einem Finger über meine Narbe und küsste sie. Ich betrachtete seinen vollkommenen Körper. Doch am meisten war ich in sein Gesicht verliebt, seine Augen, den Ausdruck von Verlangen, der über die banalen Begierden des Körpers hinausging. Ich führte ihn zur Dusche. Ich wusch ihm den Rücken, das Haar, die Füße, die Beine. »Jetzt lass mich«, sagte er. Das fiel mir schwer – mich von ihm waschen zu lassen. Mich von ihm berühren zu lassen. Aber ich ließ es zu.

      8

      Zu den Klängen von Miles Davis aßen wir Kartoffelsuppe und tranken Wein. Ich fragte mich, ob es so für uns weitergehen könnte. Für mich und ihn. Javier und Juan Carlos. Ich sah ihm beim Essen zu. Und fragte mich, ob ein Mann wie ich jemals den Hunger stillen könnte, der in ihm steckte.

      »Eine gute Suppe«, sagte er.

      »Nichts Kompliziertes.«

      »Es braucht ein Leben lang, um etwas richtig hinzukriegen, das so einfach ist.«

      »Das stimmt. Aber nur fürs Essen.«

      Er fuhr mit der Hand durch mein Haar.

      Ich nahm seine Hand und küsste sie. »Was ist mit deiner Mutter passiert?«

      »Woher weißt du, dass etwas mit ihr passiert ist?«

      »Du hast gesagt, du hättest niemanden mehr.« Er wandte den Blick ab. »Sie wurde ermordet.«

      »Wie?«

      Javier goss sich noch ein Glas Wein ein. »Sie wurde ermordet. Ihre Leiche hat man nie gefunden. Sie war Sozialarbeiterin. Eine schöne Frau, meine Mutter. Hat mich mit siebzehn zur Welt gebracht. Eine junge, wilde Frau, unglaublich lebendig. Alle Männer haben sie angestarrt. Sie wurde politisch aktiv. Die Transvestiten haben sie dazu gebracht, glaube ich. Nicht dass ich es ihr übel genommen hätte, dass sie sich so engagiert hat. Und dann, eines Tages, ist sie nicht mehr nach Hause gekommen. Sie ist einfach verschwunden.«

      Das war der Ausdruck, den er hatte, der Ausdruck in seinem Gesicht: die Überbleibsel alter Verletzungen, die emotionale Narbe, das Wissen, dass alles Lachen der Welt jeden Moment von einem launischen Wind hinweggefegt werden konnte. Und dass er nichts dagegen zu tun vermochte.

      Seine Augen blieben trocken. »Ich hab sie gesucht und gesucht und gesucht. Die Polizei unternahm nichts. Niemand hat irgendetwas unternommen. Wer war sie auch schon? Bloß noch so eine Frau, die in der Wüste verschwand, ihr Fleisch vom gottverdammten Sand verschluckt.«

      Dann kamen seine Tränen, genau so, wie Unwetter in der Wüste losbrechen, Donner, Blitze, wütender, ungeheurer Regen, der sich fast wie ein Geschosshagel anfühlt. Ich hielt ihn fest, während er weinte, und fragte mich, warum die Welt so grausam war und gute, schöne, anständige Menschen wie Javier so wenig zählten, wo sie doch so viel zählen müssten.

      »Es ist nicht wahr«, flüsterte ich, »dass du niemanden mehr hast.« Ich nahm sein Gesicht zwischen meine Hände.

      »Hörst du mich, Javier?«

      Und dann nahm ich ihn, liebte ihn. Und dann nahm er mich, liebte mich.

      Niemand hatte je meinen Namen so geflüstert, wie er es tat. Mit dem Klang meines Namens im Ohr schlief ich ein.

      Als ich aufwachte, war er schon angezogen. Der Abend brach herein. »Ich muss ins Krankenhaus«, sagte er.

      »Ich fahr dich hin.«

      »Nein. Nicht für das kurze Stück.«

      »Es ist kalt«, sagte ich. »Du hast keine Jacke dabei.« Ich stand auf und ging zum Wandschrank. »Hier. Zieh dir das über.«

      Er machte keine Einwände. Er nahm die Jacke, zog sie an und küsste mich. Dann war er fort.

      9

      Ich hätte ihn gern angerufen, ließ es aber bleiben. Das musste ich ihm überlassen. Wenn sein Onkel im Sterben lag, würde er seine Cousins auffordern, zu kommen und sich um das Notwendige zu kümmern. Bisher hatte er das getan. Er war so jemand. Es gibt solche, die nehmen, und solche, die geben, und er gehörte zu letzteren. Ich dachte an ihn, ich stellte mir vor, wie er am Bett seines Onkels saß.

      Am Dienstagabend rief er an. Es war spät, schon fast Mitternacht. »Kommst du?«

      »Bin gleich da«, sagte ich. Ich brauchte nicht lange, um mich anzuziehen und aus der Tür zu laufen. Das Krankenhaus war ganz in der Nähe. Ich ging hoch in den vierten Stock und fand das Zimmer. Javier, am Bett sitzend, hielt die Hand seines Onkels. Ich ging zu ihm hin und legte meine Hand auf seinen Rücken.

      »Sie sind nicht gekommen«, flüsterte er. »Seine Söhne. Sie sind nicht gekommen.«

      »Du bist sein Sohn«, sagte ich.

      Wir saßen da und hörten, wie sein Onkel um Luft rang. Die letzten Atemzüge Sterbender sind laut und quälend. Der Körper will bis zum letzten Moment leben, kämpft um jeden Atemzug – und schert sich nicht um die Schmerzen.

      Ich wusste, dass Javier bleiben würde, bis sein Onkel den letzten Atemzug tat. Ich blieb bei ihm. Das war alles, was ich tun konnte.

      Javier hielt Wache, bis zum Ende. Als es still wurde im Zimmer, keuchte er, als hätte man ihm einen Messerstich versetzt. Er zitterte am ganzen Körper. So war der Kummer – ein Erdbeben im Herzen. Aber der Kummer war auch ein grausamer Dieb, der einem die Kontrolle über den eigenen Körper stahl.

      Ich küsste Javier auf die Schulter – obwohl ich bezweifle, dass er meine Anwesenheit überhaupt wahrnahm. Dann ging ich die Krankenschwester holen. Ich nahm mir Zeit. Javier hatte ihn mehr als verdient, diesen Moment allein mit seinem Onkel, den er so offensichtlich liebte.

      Er verließ das Zimmer nicht ein einziges Mal, bis die Leute vom Beerdigungsinstitut kamen, um die Leiche abzuholen. Mittlerweile ging die Sonne auf.

      Ich brachte ihn zum Haus seines Onkels. Während der Fahrt wechselten wir kaum ein Wort. Als wir ankamen,