Benjamin Alire Saenz

Alles beginnt und endet im Kentucky Club


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Es würde nichts bringen, dort anzurufen.

      Irgendwann ging ich über die Straße zum Supermarkt und kaufte eine Schachtel Zigaretten. Die erste schmeckte, als hätte mir eine Taube in den Mund gekackt. Aber das machte nichts. Ich rauchte noch eine. Ich goss mir einen Drink ein.

      In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Stattdessen ließ ich mir alle möglichen Szenarien durch den Kopf gehen. Schließlich war ich Schriftsteller. Vielleicht hatte er eine Affäre mit einem anderen Mann. So wenig originell dieses Szenario auch war, ich hielt daran fest. Weil es bedeutete, dass Javier am Leben war.

      Um sechs Uhr klopfte ich an Magdas und Sofias Tür. Ihren Mienen entnahm ich, dass mein Erscheinen sie nicht überraschte.

      »Sie sehen furchtbar aus«, sagte Magda, als sie mich Richtung Couch schob.

      Sofia ging in die Küche und kam mit einer Tasse Kaffee zurück. Sie bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie. Ich hörte, wie meine Lungen den Rauch einzogen. »Nun sagen Sie schon – was ist mit Javier passiert?«

      »Wir hatten keine Telefonnummer. Deshalb wussten wir nicht, wie wir Kontakt mit Ihnen aufnehmen sollten.«

      »Was ist passiert?«

      »Am Donnerstagabend – «, Sofia sah Magda an. Magda nickte ihr zu.

      » – sind sie gekommen.«

      »Wer sind ›sie‹?«

      »Ein paar Männer. Sie hatten Gewehre dabei. Oder vielleicht auch keine Gewehre. Waffen. Wir haben sie gehört. Es war noch nicht dunkel. Sie haben Javier raus auf die Straße geschleift. Sie haben alle Männer aus dem Viertel zusammengetrieben. Sie müssen nach jemand Bestimmtem gesucht haben. Also haben sie erst mal alle mitgenommen.«

      Magda zündete sich eine Zigarette an. »Sofia wollte sie aufhalten, aber ich habe sie nicht aus dem Haus gelassen.«

      Ich nickte und sah Sofia an. »Das war wirklich mutig von Ihnen. Aber die hätten Sie umgebracht.«

      »Vielleicht haben sie ja gar niemanden umgebracht.«

      »Glauben Sie das?«

      Magda blickte auf den Boden sah zu Boden. »Die haben nach jemand anderem gesucht. Das war einfach ein Fehlgriff.«

      »Lassen die ihre Fehlgriffe am Leben?«

      15

      Ich fuhr zum amerikanischen Konsulat. Es war zwar an den Wochenenden geschlossen, aber irgendjemanden traf man dort immer an. Es gelang mir, einen Chauffeur auf mich aufmerksam zu machen, der hinter dem Tor in einem Auto saß. »Ich bin ein Freund von Javier«, schrie ich.

      Er kam ans Tor. Ich stellte mich vor. Er nannte mir seinen Namen. Manuel. Er gab mir die Hand. »Javier liest dauernd Bücher von Ihnen«, sagte er.

      Ich nickte.

      Ich erzählte ihm, was ich von Magda und Sofia erfahren hatte.

      Er schüttelte den Kopf.

      Er ließ mich herein. Ich saß allein in einem Warteraum. Manuel kam zurück und fragte nach meiner Handynummer. Dann ging er wieder hinaus. Ein paar Minuten später erhielt ich einen Anruf von einem Mann namens Neil, der im Konsulat arbeitete. »Manuel hat mir berichtet, was mit Javier passiert ist. Können Sie mir das Ganze noch einmal erzählen?« Das tat ich. »Oh nein«, sagte er. Ich merkte, dass er eine gewisse Achtung vor Javier hatte – vielleicht spielte auch Sympathie mit hinein. Er erklärte, sie würden ihr Möglichstes tun, um herauszufinden, was mit Javier passiert war. Ich glaube nicht einmal, dass das gelogen war. Aber sie sollten nichts herausfinden.

      Das Konsulat erhielt nie irgendwelche Informationen zu Javiers Verschwinden. Und falls doch, wurden die nicht an mich weitergegeben.

      Eine Woche lang tat ich nichts anderes als zu suchen. Ich sprach mit Javiers Nachbarn. Niemand sagte mir irgendetwas. Alle hatten Angst. Manche von ihnen bangten selbst um einen Angehörigen, der bei dem Überfall verschwunden war. Einen Sohn. Einen Vater.

      Eine Frau gab mir den Rat, nach El Paso zurückzukehren. Y no vuelvas. Nadie sabe nada. Y si saben no te van a decir. Sie hatte recht. Niemand würde mir etwas sagen.

      Ich ging zur Polizei.

      Dort bekam ich zu hören, sie hätten schon einen Anruf vom Konsulat erhalten und würden nach Javier suchen.

      »Wahrscheinlich ist er bloß vor seiner Frau und seinen Verpflichtungen davongelaufen.« Das bekam ich zu hören. Ich machte mir nicht die Mühe, den Polizisten zu erklären, dass ich Javier so nahe stand wie es eine Ehefrau nur könnte. Ich wandte mich an die Zeitungen.

      Ich sprach mit Anwälten.

      Ich sprach mit Menschenrechtlern.

      Ich sprach mit meinem Kongressabgeordneten.

      Niemand wollte so richtig mit mir sprechen. Allmählich verstand ich, wie es sich anfühlt, unsichtbar zu sein.

      Ich spielte mit dem Gedanken, in der Wüste zu suchen, aber wo in der Wüste sollte ich suchen?

      Er war fortgegangen. Javier. Und ich wusste, ich würde ihn nie wiedersehen. Ich war wütend auf mein Herz, das sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben, obwohl ich es beschwor, endlich aufzugeben. Ich begann, die Wochenenden in Javiers kleiner Wohnung zu verbringen. Magda und Sofia sagten mir, dass ich mich damit in Gefahr brachte. »Ist mir egal«, erwiderte ich. »Sollen die mich ruhig auch holen.«

      Ich rief drei- oder viermal pro Woche beim Konsulat an. Ich ging aufs Polizeirevier und stellte Fragen.

      Ich sprach weiter mit Reportern.

      Ich schlief in Javiers Bett und träumte ihn ins Leben zurück. Es waren immer die gleichen Träume. Er war glücklich, er war am Lesen. Er berührte mich. Er schlief mit mir. Wir gingen händchenhaltend die Avenida Juárez entlang. Ich erwachte zwischen seinen Büchern und seinen Pflanzen. Immer rief ich seinen Namen, immer wartete ich darauf, dass er mir antwortete.

      Ich weinte nie. Fühlte nichts als die Taubheit meines wütenden Herzens.

      Ich hörte auf, beim Konsulat anzurufen. Ich hörte auf, bei der Polizei anzurufen. Monate vergingen. Ich hörte auf zu schreiben.

      Schließlich hörte ich auf, in Javiers Wohnung zu gehen. Ich hörte einfach mit allem auf. Es war Monate her. Und dann war der Winter zurückgekehrt.

      Eines Abends im Dezember rief Magda an. »Kommen Sie vorbei«, sagte sie.

      Ich fühlte etwas im Herzen. »Hat man ihn gefunden?«

      »Nein«, sagte sie. »Sie müssen aufhören, sich Hoffnungen zu machen.«

      Ich nickte in den Hörer.

      »Sofia und ich haben etwas für Sie.«

      Ich ging zu Fuß von meiner Wohnung bis zur Brücke. Dort nahm ich ein Taxi zum Haus von Sofia und Magda. Sofia bot mir ein Glas Wein an.

      Ich nahm das Glas. Magda bot mir eine Zigarette an.

      »Nein«, sagte ich. »Das hilft nichts.«

      »Es macht mich glücklich, dass Sie ihn so sehr geliebt haben.«

      »Mich nicht«, sagte ich. »Was vermag Liebe schon, außer einen unglücklich zu machen?«

      »Ohne Liebe wären wir noch unglücklicher.«

      Sofia zog etwas aus ihrer Handtasche. Ich sah, was es war. Javiers Uhr. Die Uhr, die sein Vater ihm gegeben hatte. Er hatte sie nie abgenommen.

      »Wo haben Sie die gefunden?«

      »Ein paar Leute haben mit uns gesprochen.«

      »Wer? Wer hat mit Ihnen gesprochen? Wer?«

      »Das spielt keine Rolle, Carlos.«

      »Doch.«

      »Sie dürfen