Benjamin Alire Saenz

Alles beginnt und endet im Kentucky Club


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fing an, mir aus den Fingern zu gleiten.

      Als er ging, lauschte ich seinen Schritten auf der Treppe. Dann rannte ich auf den Balkon und sah zu, wie er die Straße entlang lief. Als er an der Ecke ankam, drehte er sich um. Er winkte. »Ich wusste, dass du da stehen würdest«, schrie er.

      Ich antwortete nichts.

      Ich stand einfach nur da, über das Balkongeländer gebeugt. Und sah zu, wie er am Horizont mit der Stadt verschmolz.

      6

      Am Montagmorgen bekam ich eine sms von ihm: Ich habe beim Aufwachen an dich gedacht. Ich las die sms und las sie dann noch einmal. Und noch einmal.

      Ich fühlte mich wie ein Schuljunge, der eine Nachricht von einem Mädchen erhält. Nein, eine Nachricht von einem Jungen.

      Ich wusste nicht, was ich auf seine sms antworten sollte. Diese Mode machte ich ohnehin nur mit, weil meine Nichten und Neffen es von mir erwarteten. Wir schrieben einander alberne und nette Dinge. Aber das hier war anders.

      Schließlich, gegen Mittag, simste ich ihm zurück: Pass auf dich auf! Genau das schrieb ich. Genau da wurde mir klar, dass ich Angst hatte. Ich mochte mir nicht vorstellen, dass Javier allein durch die Straßen von Juárez lief, um einzukaufen, in einen Laden ging und umgebracht wurde, rein zufällig, ohne jeden Grund. Was nützt es, Angst zu haben? Er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Aber so viele Menschen waren schon fortgegangen. Warum nicht auch er? Ich kannte die Antwort, noch bevor ich mir die Frage stellte. Er gehörte nicht zu denen, die fortgehen. Er liebte sein Juárez. Ich konnte es in seinen Augen sehen, in seinem unrasierten Gesicht, in der Art, wie er sich bewegte und sprach. Ich konnte seine Liebe zu dieser armen, elenden Stadt beinahe in seinen Küssen schmecken.

      Es machte mich wütend, dass Juárez so chaotisch und brutal und unberechenbar geworden war, eine Stadt, die nach dem Blut ihrer eigenen Leute lechzte. Wie hatte das geschehen können? Ich war es leid, so irrsinnig leid, dass die Toten nur noch gezählt wurden, dass all das Morden unaufgeklärt und unbestraft blieb. Man konnte einfach jemanden umbringen, wenn man wollte. Und was würde passieren?

      Nichts. Diese verdammte Stadt kümmerte sich nicht mehr darum, wen es erwischte. Bald würde man einfach über die Leichen hinweg steigen. Pass auf dich auf. Pass auf dich auf. Pass auf dich auf.

      7

      Am nächsten Sonntag stand er vor meiner Tür. Es war früh am Morgen. »Mein Onkel ist gestern Abend ins Krankenhaus gebracht worden.«

      »Du siehst müde aus«, sagte ich. Und er sah wirklich müde aus. Müde und traurig, sein weißes Hemd zerknittert.

      »Ich hab auf einem Stuhl in seinem Krankenzimmer geschlafen.«

      Wir gingen die Treppe hoch zu meiner Wohnung.

      »Ich mag deine Welt«, sagte er, während er das neue Bild ansah, an dem ich arbeitete. Dann bemerkte er die Worte auf meinem Computer. »Warst du gerade am Schreiben?«

      »Ja.«

      »Du schreibst am Sonntag?«

      »Es ist wie zur Messe zu gehen.«

      Er lächelte. »Das hier ist also das Abendmahl.«

      »So ähnlich.«

      »Was schreibst du?«

      »Ein Gedicht.«

      »Worüber?«

      »Über das, was in Juárez passiert.«

      »Warum ausgerechnet darüber?«

      »Juárez lässt mich einfach nicht los.«

      »Wieso?«

      »Weil es ein Teil von mir ist.«

      »Du lebst nicht dort.«

      »Wir leben alle in einer Stadt, Javier.«

      »Das ist Blödsinn, Carlos.« Ich mochte den Zorn, der in seiner Stimme mitschwang. »Spielt die verdammte Grenze für dich keine Rolle?«

      Es gab so manches, was ich hätte sagen können, was ich gern gesagt hätte, aber die Grenze war nun einmal da und wir lebten auf verschiedenen Seiten davon. Was nützten schon utopische Ideologien über grenzenlose Welten von einem Verfasser politischer Gedichte? Was nützte ein Streit mit einem schönen Mann?

      Er lächelte. »Ich bin nicht auf dich wütend.«

      »Das weiß ich.«

      »Schreib nicht über Juárez. Schreib über etwas Schönes.«

      »Das ist nicht meine Arbeit, Javier.«

      »Ich weiß. Deine Bücher werden immer trauriger.«

      »Dafür gibt es eine Menge Gründe.«

      »Das ist seltsam. Weil du kein trauriger Mensch bist.«

      »Nein, eigentlich nicht.«

      »Aber warum nicht?«

      »Früher war ich traurig. Jetzt geht es mir besser.«

      »Also bist du glücklich?«

      »Im Moment schon.«

      »Du bist kompliziert.«

      »Erst war ich interessant und jetzt kompliziert?«

      Er lachte. Dann legte er den Kopf auf meine Schulter. Und begann zu weinen.

      »Er stirbt«, flüsterte Javier. »Ich habe niemanden mehr.« Seine Tränen durchnässten mein Hemd. Ich wollte sie schmecken, in ihnen baden, von ihnen überschwemmt werden. »Er stirbt.« Das wiederholte er ein ums andere Mal.

      Ich wusste nie, was ich sagen sollte, wenn jemand weinte. Besonders wenn es ein Mann war. Bevor mein Vater starb, hatte ich oft bei ihm gesessen und seinem Schluchzen gelauscht. Manchmal hatte ich dabei seine Hand gehalten. Ich liebte dieses Bild in meinem Kopf: wie ich die Hand meines Vaters hielt. Also tat ich genau das. Ich nahm Javiers Hand und hielt sie fest. Ich führte ihn zu meinem Schlafzimmer. »Du solltest schlafen«, sagte ich. »Du bist müde.«

      Er legte sich aufs Bett. Ich zog ihm die Schuhe aus.

      Er starrte auf das kleine Wandgemälde, das ich in einer Ecke begonnen hatte. »Sehr schön. Gefällt mir.«

      »Ich bin noch nicht fertig.«

      »Lass es so.«

      »Es ist nur ein Himmel.«

      »Es ist schön. Nur ein Himmel. Lass es so.« Er war müde und er flüsterte.

      »Schlaf jetzt«, sagte ich.

      Draußen war es kalt. Der Wind frischte auf und die Wolken ballten sich zusammen wie ein Schwarm lästiger Krähen. Ich hasste Krähen. Sie waren gemein und eigennützig und tanzten mit hämischer Freude herum, wenn sie eine Eidechse gefangen hatten. Ich trat auf den Balkon und atmete tief durch. Der Gedanke an eine Zigarette schoss mir durch den Kopf – aber ich wollte nicht zurück zu jenen Zeiten. Ich war nicht mehr der Jüngste. Ich hatte viele Fehler gemacht. Rauchen war der geringste davon. Kein Zurück.

      Wieder drinnen beschloss ich, Kartoffelsuppe zu kochen. Ich schälte ein paar Kartoffeln, würfelte sie, würfelte auch ein paar Zwiebeln, warf alles in einen Topf, fügte Salz, Pfeffer, Knoblauch hinzu, hackte Koriander. Eine Armeleute-Suppe. Nicht dass ich arm war, aber die Suppe erinnerte mich an meine Mutter. Ich liebte sie. Und ihre Suppe.

      Ich ging ins Schlafzimmer und betrachtete den schlafenden Javier. Er hatte einen schlechten Traum. Er zitterte und murmelte, aber ich konnte die Worte nicht verstehen. Ich setzte mich aufs Bett und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Es ist nur ein Traum«, flüsterte ich. Er wachte auf, erschrocken. In seinen Augen sah ich einen Ausdruck von Angst. Und dann einen ganz anderen Ausdruck, den des Loslassens.

      »Es ist okay«,