Ulrich Behmann

Januargier


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Nicht, dass Sie das in den falschen Hals kriegen ...“ Der Rechtsmediziner schaute Krause in die Augen. Dabei lächelte er. „Keine Sorge, Herr Krause. Das habe ich schon richtig verstanden. Ich empfinde diesen stechenden und zugleich süßlichen Ammoniak-Geruch ja auch als unschön.“ Mertens, der wie im Sektionssaal der Rechtsmedizin Mundschutz, Kittel und Gummihandschuhe trug, drückte mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand auf den seltsam verfärbten Bauch der Toten. Bernie Krause räusperte sich: „Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen, Herr Doktor?“ Mertens, der sich über den Holzsarg gebeugt hatte, richtete sich auf und unterbrach die Inaugenscheinnahme der Toten. „Na klar. Die erste Frage haben Sie ja schon gestellt. Wie lautet die zweite?“ Krause war irritiert. „Äh, die zweite Frage ...?“

      „Ja, was wollen Sie wissen? Tun Sie sich keinen Zwang an. Raus damit ...“

      Krause druckste herum. „Tja, also ... Ich frage mich, weshalb sich manche Leichen grün verfärben und so bizarre Muster auf der Haut haben.“ Der Leitende Oberarzt der Medizinischen Hochschule freute sich über Krauses Ahnungslosigkeit. Er stand gern im Hörsaal der Medizinischen Fakultät und bildete mit großer Freude angehende Mediziner aus. Jetzt war er in seinem Element. Mertens räusperte sich. Dann hob er zu einem Kurzvortrag an. „Fangen wir mit der Verfärbung an“, sagte Mertens, der das Dozieren liebte. Der Rechtsmediziner zeigte auf den Bauch der Toten. „Im Magen-Darm-Trakt befinden sich bekanntlich unzählige Bakterien. Diese Winzlinge sterben nicht, wenn ein Mensch stirbt. Sie vermehren sich unaufhörlich, produzieren jede Menge Fäulnisgase. Diese Gase enthalten unter anderem Schwefel. Wissenschaftler sprechen von Sulfhämoglobin. Das ist ein grünliches Hämoglobin-Derivat, das keinen Sauerstoff transportieren kann. Es entsteht durch Kontakt von Hämoglobin mit Schwefelverbindungen. Irgendwann durchdringen die Fäulnisgase das Unterhautfettgewebe und die Haut des Toten. Dadurch kommt es zu einer Grünfärbung der Bauchdecke und zu einem ausgeprägten Blähbauch.“ Mertens schaute Krause fragend an. „Na, alle Unklarheiten beseitigt?“

      Der Helfer signalisierte durch heftiges Kopfnicken, dass er verstanden hatte. Dennoch wurde der Gerichtsmediziner das Gefühl nicht los, dass Krause noch etwas auf dem Herzen hatte. „Und? Noch eine Frage?“

      Bernie Krause antwortete nicht sofort. Er zeigte stumm auf ein Geflecht aus roten Linien, die aussahen, als habe sich ein Maler in abstrakter Kunst versucht. „Und was ist das da?“, fragte er.

      „Die Marmorierung, meinen Sie?“

      Krause atmete hörbar ein. Das nasale Schnaufen, das dabei entstand, klang gar nicht gut – es verriet dem Rechtsmediziner, dass sein Gehilfe kurzatmig war. Vielleicht war der Mann erkältet, womöglich rauchte er Kette. Mertens dachte nicht länger darüber nach. Stattdessen beantwortete er die Frage. Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Ganz einfach. Dort, wo diese roten Linien zu sehen sind, schlägt das Venennetz durch“, erklärte Doktor Mertens. „Das ist bereits alles. Aber ich gebe zu: Das sieht schon ein wenig skurril aus.“ Mertens klatschte laut in die Hände, um die Konversation zu unterbrechen. Die Leichenschau musste weitergehen. „So, Herr Krause, dann drehen Sie doch bitte die Tote auf die linke Seite.“ „Jawoll“, quittierte der Leichenschau-Helfer und ging zur Sache. Während er die verweste Frauenleiche bewegte, lief eine rot-violette Flüssigkeit aus Mund und Nase der toten Frau. Ungefragt erklärte Mertens, was da gerade vor sich ging. „Diese schaumig-wässrige Substanz kommt aus der Lunge – das Organ ist verfault, deshalb hat sich darin Fäulniswasser gebildet.“

      Über ihnen erhellten 40 Neonröhren den wohl 100 Quadratmeter großen Saal, der Eiseskälte ausstrahlte, was wohl dem kalten Licht und der Temperatur geschuldet war, die von den Kühlaggregaten auf konstante fünf Grad Celsius gehalten wurde. Doktor Mertens schätzte diese Kühle besonders im Hochsommer. Der Raum war, wenn er von Bernie Krause für die wöchentliche Leichenschau vorbereitet worden war, nichts für zarte Gemüter. Hinter einer großen Schiebetür aus Stahl, die beige lackiert war, standen rechts und links je zehn geöffnete Särge, die auf Rollwagen standen. Es war eine Leichenhalle, wie man sie aus Kinofilmen kannte.

      Helfer Bernie hatte die Toten, die in den vergangenen 48 Stunden von Bestattern aus dem Umland angeliefert worden waren, schon am frühen Morgen aus kleineren Kühlräumen geholt, sie entkleidet und den ganzen

      Papierkram für die bevorstehende Leichenschau vorbereitet.

      Heide-Marie Roth – oder besser: was von ihr übrig war – wirkte aufgedunsen. Ihre Lippen waren extrem stark aufgequollen. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment bersten. Die Haut war mit zahlreichen Bläschen, die mit Flüssigkeit gefüllt waren, übersät. Im Sarg stand das Fäulniswasser mehrere Millimeter hoch. Am linken Armgelenk entdeckte der Leichenbeschauer eine schmale kreisrunde Vertiefung. Die Schnürfurche weckte das Interesse des Gerichtsmediziners. Mertens schaute genauer hin, tastete die feine Rille mit dem Zeigefinger, der wie der Rest seiner Hand in einem blauen Einmalhandschuh steckte, ab. Dass die Haut dabei knisterte, erstaunte den erfahrenen Gerichtsmediziner freilich nicht. Er wusste: Das Weichgewebe war mit Fäulnisgasen durchsetzt. Bei Druck löste das ein Knistern aus.

      Der routinierte medizinische Forensiker fand die Ursache für die Einschnürung, die ihn an eine Drosselmarke, wie man sie zuweilen an Hälsen von Mordopfern fand, erinnerte. Diese Druckmarke war jedoch unverdächtig. Die Frau hatte zu Lebzeiten ein Freundschaftsbändchen getragen. Die geflochtenen Fäden sahen aus, als seien sie im Laufe der Zeit ins Gewebe eingewachsen. Das war aber der post mortem aufgequollenen Haut und den mit Fäulniswasser gefüllten Bläschen geschuldet, die an einigen Stellen aufgeplatzt waren. Den stellvertretenden Institutsleiter erinnerte das Bändchen, dessen Farben er wegen der bereits austretenden Leichenflüssigkeit nicht mehr erkennen konnte, an den Schlagersänger Wolfgang Petry, der sich diese bunten Armbänder zu seiner besten Zeit inflationär, ja kiloweise, um seinen linken Arm gebunden hatte. Das Bild hatte sich tief in das Gedächtnis des Arztes eingebrannt.

      Etwas bereitete dem gewieften medizinischen Detektiv ein leichtes Unbehagen – vor seinem geistigen Auge sah er plötzlich die Leiche der Frau aus Hameln, die ihm im Traum erschienen war. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte auch sie ein dünnes Stoffbändchen am Handgelenk getragen. Vielleicht ist das gerade wieder in Mode gekommen oder nur ein Zufall, wischte Mertens die Gedanken beiseite. Sorgfältig setzte Mertens die Untersuchung der Toten fort. Doch die Stimme von Wolfgang Petry konnte er nicht so einfach verscheuchen. Obwohl der leitende Rechtsmediziner kein großer Schlagerfan war, kam ihm der Anfang einer Strophe aus einem Hit des Sängers in den Sinn, der sich wie ein Ohrwurm in seinem Kopf festzusetzen drohte. „Verlieben, verloren, vergessen, verzeih’n ...Verdammt, war ich glücklich, verdammt, bin ich frei ...“

      Doktor Mertens atmete tief durch und wieder aus. Er wunderte sich über sich selbst, dass er jetzt den Drang verspürte, das Lied zu singen – ausgerechnet während einer Leichenschau. Der Rechtsmediziner schüttelte den Gedanken daran ab, er konzentrierte sich auf seine Arbeit, strich Hautfalten glatt, leuchtete mit einer kleinen, aber starken Halogentaschenlampe in die Körperöffnungen der Leiche. Mertens konnte keine Hinweise auf Fremdverschulden entdecken. Allerdings gestaltete sich das auch schwierig, denn: Milliarden von Fäulnisbakterien waren dabei, den Körper zu zersetzen. Mertens schaute noch einmal auf den von einem Allgemeinmediziner unterzeichneten Totenschein. „Verdacht auf Herzinfarkt.“ Der Rechtsmediziner dachte einen Moment lang nach, zog die Augenbrauen hoch. „Na ja, der Hausarzt muss es ja wissen“, sagte er leise zu sich selbst und rümpfte die Nase. Dabei entstanden Sorgenfalten auf seiner Stirn. Nicht einmal er hätte bei dem Zustand der Leiche ohne Autopsie eine Todesursache benennen können. Das stand fest. Aber vielleicht hatte der Hausarzt ja ein wenig orakelt, weil er die Vorerkrankungen der Frau kannte. Ein Beweis war das natürlich nicht. Auch Todgeweihte konnten schließlich Opfer eines Mörders werden. „Hat es alles schon gegeben“, dachte Mertens, als er seinen Helfer anwies, die Tote auf den Bauch zu legen, um deren Rücken inspizieren zu können. Zum Glück war es nicht seine Aufgabe, die Todesursachen seiner „Patienten“ herauszufinden. Das geschah eher nebenbei. Seine vorrangige Aufgabe war es, nach Hinweisen auf ein mögliches Fremdverschulden zu suchen – sowohl bei der äußeren als auch bei der inneren Leichenschau. Gab es keine Anzeichen dafür, war der Fall für ihn erledigt. Das unterschied die Gerichtsmediziner von den Pathologen, deren Autopsie-Saal sich gleich neben dem der Rechtsmediziner befand. Die einen suchten im Auftrag