der Wissenschaft – oft mithilfe eines Mikroskops – nach Anzeichen für Erkrankungen, die zum Tod eines Klinik-Patienten geführt hatten.
Der Leitende Oberarzt setzte seine akribische Untersuchung fort; er betrachtete jeden Quadratzentimeter Haut der Toten – zumindest das, was die Fäulnisbakterien davon übrig gelassen hatten. Was hatten Hausärzte bei der ersten Leichenschau nicht schon alles übersehen – sogar Stich- und Schusswunden. Die Literatur war voll davon. An den sterblichen Überresten von Heide-Marie Roth konnte der Gerichtsmediziner keine Auffälligkeiten entdecken. Der Leichenbeschauer gab schließlich sein Okay für die Einäscherung.
Nachdem Doktor Karl Mertens seine blauen Gummihandschuhe abgestreift, den hellgrünen Kittel ausgezogen und sich von Bernie Krause verabschiedet hatte, setzte er sich in seinen A6, stecke den Schlüssel ins Zündschloss und startete den 272 PS starken Motor. Nur 15 Minuten später stellte Mertens seinen Wagen vor dem Institut für Rechtsmedizin an der Carl-Neuberg-Straße Nummer 1 ab. Sein Mantel wehte im Wind, als er die rote Institutstür am Eingang Nord aufschloss. Er hatte ein Rendezvous mit einer Leiche. Dass er in Lahe ein Tötungsdelikt übersehen hatte, ahnte Doktor Mertens zu diesem Zeitpunkt nicht.
Kapitel 5
Herma knöpfte ihre weiße Bluse auf, legte ihren BH ab und betrachtete sich dabei im Spiegel. Mit den Fingern ihrer rechten Hand strich sie sich durch ihre dünnen blonden Haare, die noch vom starken Nordwestwind zerzaust und von dem feinen Nieselregen, der seit Tagen auf Ostfriesland niederging, feucht waren. Für mein Alter sehe ich noch ganz passabel aus, dachte sie. Manch junge Deern beneidete sie um ihre schlanke sportliche Figur und um ihre üppige Oberweite. Die Mordermittlerin hatte in den vergangenen zwei Monaten, die sie im Krankenhaus und daheim zugebracht hatte, etwas an Gewicht zugenommen – das zeigte nicht nur die Waage, davon zeugte auch die kleine Bauchspeck-Rolle, die jetzt über ihre Gürtelschnalle quoll. Die Ostfriesin beschloss, wieder mehr joggen zu gehen. Auf den Deichen zwischen der Nordsee, den zahlreichen Binnenseen und den Fehnkanälen, den unzähligen Schafen und Möwen fühlte sie sich besonders wohl. Dort lagen die von ihr bevorzugten Laufstrecken. Vielleicht sollte ich mich lieber in einem Fitnessstudio anmelden, dachte sie, als sie sich bäuchlings auf die Liege legte und auf Georg wartete. Sie mochte es, wenn er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste und hart zur Sache ging. Sie wollte seine kräftigen Finger auf ihrer nackten Haut spüren – danach sehnte sie sich schon seit Tagen. Georg Schultz war Physiotherapeut und seit Neuestem auch Chef des Watt-und-Meer-Zentrums in Bensersiel – er besaß heilende Hände und hatte Herma vor ihrem Umzug nach Hameln oft geholfen, wenn ihr Rücken mal wieder vom langen Sitzen vor dem Dienstcomputer verspannt war. Einmal hatte sie sich bei einer Verfolgungsjagd in Aurich einen Nackenwirbel verdreht. Georg war auch nach Feierabend sofort zur Stelle gewesen; er hatte ihre Knochen wieder eingerenkt. An das fiese Knacken konnte sie sich noch gut erinnern.
Herma van Dyck versuchte zu dösen, aber es gelang ihr nicht, sich zu entspannen. Die Narben auf ihrer Kopfhaut schmerzten heute wieder einmal besonders heftig. Sie hatte Angst, gleich einen Migräneanfall zu bekommen. Seit dem Mordanschlag auf sie, der sie beinahe das Leben gekostet hatte, machte ihr jeder noch so kleine Wetterumschwung zu schaffen. Herma hörte die Schreie der Lachmöwen, die im Schwarm vom Meer landeinwärts flogen, vermutlich, um sich auf irgendeinem matschigen Acker niederzulassen und dort die Würmer, die sich an die Erdoberfläche gerettet hatten, zu fressen. Die scharfen durchdringenden Rufe der Vögel hörten sich wie „Kriiiärr“ und „Kik“ an. Diese Laute erinnerten Herma an ein spöttisches Lachen – es passte gut zu einem Shanty, der gerade leise aus einem Lautsprecher, der in die Decke des weiß gestrichenen Therapieraums eingelassen worden war, erklang. Radio Ostfriesland spielte „Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise ...“ Hermas Blick fiel auf ein großformatiges Bild der Auricher Malerin Katja Freimuth. Die farbenfrohen, kraftvollen, expressionistischen Werke der Künstlerin waren für Herma das i-Tüpfelchen in Watt und Meer – sie schienen inspiriert worden zu sein von der positiven Strahlkraft und Vielfalt der Natur und weckten in ihr positive Gefühle. Das Gemälde sollte wohl eine Blumenwiese zeigen.
Die Tür ging auf. Georg trat ein – seine blauen Augen strahlten, als er seine alte Freundin begrüßte. „Moin, Herma. Kannst es wohl kaum abwarten, dass ich dich durchknete“, sagte er vergnügt. Die völlig verspannte Mordermittlerin drehte ihren Kopf zur Seite. „Autsch! Verflucht“, schrie sie. „Gut, dass du da bist, Georg. Du musst mich von den Schmerzen im Nacken und im Kopf befreien. Alles tut höllisch weh. Das ganze Ibuprofen und Novalgin, das ich seit Wochen schlucke, hilft nicht.“ Georg schwieg, er begann stattdessen mit seiner Arbeit. Herma fühlte seine warmen Hände auf ihrer Haut, spürte, dass er mit seinen Fingerspitzen ihre Triggerpunkte ertastete.
„Mannomann ... Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“, fragte Schultz seine Patientin. In seiner Stimme schwang etwas Vorwurfsvolles mit. „Deine Muskeln sind ja total verhärtet. Überall fühle ich Knoten unter deiner Haut. Das sind alles heftige Muskelverhärtungen. Kein Wunder, dass du Schmerzen hast, die bis in den Kopf ausstrahlen.“
Herma stöhnte leise auf, als Georg mit seiner Triggerpunkt-Therapie anfing. Mit seinem rechten Ellenbogen drückte er das Blut aus den punktuellen Verhärtungen in ihrer Skelettmuskulatur. „Du musst jetzt ganz tapfer sein. Das wird wehtun“, kündigte Georg an. „Das tut es jetzt schon“, sagte Herma. „Was hast du vor?“, wollte sie wissen. „Wenn du es genau wissen willst. Ich werde mir zunächst die myofaszialen Triggerpunkte in deinem Schulterheber-Muskel und dann die in deinem Trapezmuskel vornehmen. Das sind exakt die Stellen, die bei dir Schmerzen im Nacken, im Hinterkopf und im Schläfenbereich auslösen, also triggern. Das ist auch schon alles. Ist keine Hexerei, nur: gewusst wie.“ Herma van Dyck stöhnte nur. Sprechen konnte sie nicht. Der Druck, den Georg auf ihren Rücken ausübte, ließ ihrer Lunge im Moment kaum Raum zum Atmen.
Herma und Georg kannten sich schon seit ihrer Jugend. Sie teilten eine Leidenschaft: das Segeln. Früher hatte Herma ihrem Jugendfreund oft beim Surfen zugeschaut. Im Gegensatz zu ihr war Georg, obwohl er im Ruhrpott das Licht der Welt erblickt hatte, ein Meister auf dem Brett. Der Wahl-Ostfriese liebte wie sie hohe Wellen und eine steife Brise. Immer wenn es ordentlich stürmte und die meisten Menschen lieber am warmen Ofen saßen, standen Georg und seine Freunde auf ihren Surfbrettern. Damals hatte er noch lange blonde Haare gehabt. Herma war oft zum Seedeich in Ostbense gegangen, um den muskulösen Beachboys zuzusehen. Die durch die Gischt der aufgewühlten Nordsee schießenden Surfsegel hatten farbenfrohe Akzente im braunen Wasser des Wattenmeeres gesetzt.
Herma und Georg waren beide im verschlafenen kleinen Ostbense, das zu Neuharlingersiel gehörte, aufgewachsen. Vor zwei Jahren hatte der Physiotherapeut der Siedlung den Rücken gekehrt, um im nahen Bensersiel die Geschäftsführung des renommierten Watt- und-Meer-Zentrums zu übernehmen.
Georg Schultz war nicht nur ein begeisterter Wassersportler, er interessierte sich auch für das Wetter, das er wie kaum ein anderer in Ostfriesland vorhersagen konnte. Der leitende Physiotherapeut besaß die seltene Gabe, Regen schon riechen zu können, bevor am Horizont die ersten Wolken auftauchten, obwohl die südliche Nordsee für ihr mitunter eigenwilliges Mikroklima bekannt war. Es hielt sich für gewöhnlich nicht an Vorhersagen. Insbesondere die Medizin-Meteorologie hatte es Georg Schultz angetan. „Ich vermute, dass dir das Wetter zusetzt, Herma“, hob Schultz zu einem Vortrag über sein Lieblingsthema an. Die Kriminalhauptkommissarin versuchte zu nicken. Außer einem zustimmenden „Hm“ kam ihr nichts über die Lippen.
„Ich weiß ja nicht, ob du es weißt. Wir hatten in den vergangenen vier Wochen eine ganz besondere Wetterlage“, klärte Georg Herma auf, während er seinen rechten Ellenbogen mit dem Gewicht seines Oberkörpers gezielt in einen Schmerzpunkt auf Hermas Rücken drückte, um das Blut möglichst vollständig aus dem Knubbel zu pressen und dadurch die Selbstheilungskräfte ihres Körpers zu aktivieren.
„Aha“, presste Herma van Dyck hervor. Georg Schultz meinte ein Fragezeichen herausgehört zu haben. „Die Messungen des Deutschen Wetterdienstes am Emder Flughafen zeigen, dass wir im Januar an der Küste ungewöhnlich große Schwankungen des Luftdrucks hatten – an zwei Tagen wurden sogar rekordverdächtige Werte von 1040 Hektopascal und mehr gemessen. Der helle Wahnsinn ist das.“ Herma konnte mit diesen Informationen nichts anfangen. „Also, für mich sind das böhmische Dörfer. Ich verstehe nur Bahnhof.