Petra Bunte

Dieses viel zu laute Schweigen


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Hütte im Wald zurückziehst.“

      „Sehr witzig“, knurrte ich. Konnte er mich nicht endlich damit in Ruhe lassen? Er wusste genau, dass ich nach der Trennung von Steffi für keine neue Beziehung bereit war. Und bloß aus Spaß durch verschiedene Betten zu hüpfen wie er, das war nicht mein Ding. Aber ob ich ihm das sagte oder mit einer Wand redete, kam bei Lukas auf dasselbe raus.

      „Apropos Hütte“, lenkte ich deshalb schnell vom Thema ab. „Du denkst an den Termin nächste Woche, ja? Der Makler hat gesagt, dass er gegen elf Uhr da sein wird, und es war nicht leicht, ihn zu überreden, dass er extra am Samstag rauskommt.“

      „Ich weiß. Das erzählst du mir jetzt zum dritten Mal“, erwiderte Lukas gelangweilt. „Und ja, ich werde da sein.“

      Hoffentlich. Ich wusste, dass er absolut keine Lust darauf hatte, sich um den Verkauf des Hauses unserer Großmutter zu kümmern. Aber alleine würde ich es nicht tun. Wir hatten es zusammen geerbt, also war er genauso dafür verantwortlich wie ich. Fürs Erste gab ich mich jedoch geschlagen und sagte: „Wir können ja vorher noch mal telefonieren, wann du genau kommst. Ich will dich schließlich nicht länger von deinem heiß ersehnten Fußballabend abhalten.“

      Ich sah direkt vor mir, wie Lukas eine Grimasse zog und mir den Mittelfinger zeigte. Er hatte mit Fußball nichts am Hut und hätte heute Abend bestimmt tausend andere Sachen lieber gemacht. Aber ich konnte verstehen, dass er diesen Anschluss an seine Kollegen auf keinen Fall verspielen wollte. Vielleicht sollte ich ein netter Bruder sein und ihm die Daumen drücken, dass Deutschland es heute nicht ins Achtelfinale schaffte. Dann bliebe ihm zumindest ein weiteres Rudelgucken erspart.

      „Herzlichen Dank!“, flötete Lukas zuckersüß in den Hörer. „Ich wünsche dir auch viel Spaß bei deinem restlichen Knochenbrecher-Seminar. Und mach die Augen auf, was da für Frauenkörper um dich herumsitzen, die mal ordentlich durchgeknetet werden wollen.“

      „Blödmann! Mach’s gut.“

      „Du auch. Wir hören uns.“ Damit legte er auf, und ich nahm kopfschüttelnd mein Handy vom Ohr.

      Wann wurde dieser Clown endlich erwachsen? Wahrscheinlich nie. Ich war nur vier Jahre älter als er, fühlte mich manchmal allerdings doppelt so reif. Und bloß weil ich nicht wie er jedem Rockzipfel hinterherlief, hieß das längst nicht, dass ich keinen Spaß haben konnte und ein komischer, brummiger Einsiedler war.

      Entschlossen stand ich von der Bank auf und ging zurück zum Hotel. Schon von Weitem hörte ich das Gelächter der anderen Seminarteilnehmer in der Bar, die vergeblich versuchten, einer Kollegin zu erklären, was Abseits war. Aber sie erfüllte jedes Klischee und kapierte es nicht.

      Gut gelaunt gesellte ich mich dazu, bestellte mir ein Radler und freute mich auf den Fußballabend in dieser fröhlichen Runde.

      Dann wollen wir doch mal sehen, wer heute Abend mehr Spaß hat, Bruderherz!

      Anna

      Als ich an der Haltestelle ankam, stellte ich fest, dass meine S-Bahn wegen der Baustelle in der Nordstadt ausfiel und ich auf die nächste warten musste. Ich sollte mir wirklich angewöhnen, vorher online den aktuellen Fahrplan zu checken. Andererseits wäre ich Lukas nicht begegnet, wenn ich erst später losgegangen wäre …

      Seufzend ging ich am Raucherbereich vorbei, lehnte mich ein Stück weiter an die Metallbrüstung und zog mein Handy aus der Tasche, um Nele eine Nachricht zu schicken, wann ich bei ihr sein würde.

      Für einen Samstagabend war an der Haltestelle nicht viel los. Außer mir waren etwa eine Handvoll Leute da, und kaum einer kannte den anderen, wie es in unserer Wohngegend typisch war. In der Nähe des Ticket­automaten standen zwei ältere Frauen, die beinah ununterbrochen plapperten. Sie waren die Einzigen, die nicht alleine unterwegs waren, und sie redeten für die anderen drei gleich mit. Völlig unbeeindruckt davon tippte der Skater aus dem Nachbarhaus auf seinem Smartphone rum. Die Blondine aus dem Drogeriemarkt saß auf einer der Bänke und war in eine Zeitschrift vertieft. Und der Anzugträger mit dem Blumenstrauß starrte gedankenverloren vor sich auf den Boden und rauchte.

      Plötzlich wurde es hinter mir unangenehm laut. Fünf Jugendliche oder eher schon junge Erwachsene kamen mit einem Bluetooth-Lautsprecher über die Straße und beschallten mit einem nervtötenden Gangsta-Rap und ihrem eigenen Gegröle den Bahnsteig. Vorneweg lief ein Mädchen bzw. eine junge Frau, hinter ihr vier Jungs, die lautstark johlten, sich über das Musik-Geplärre hinweg anschrien und sichtlich betrunken waren. Sie waren geschätzt Anfang zwanzig, trugen schwarze Kapuzenpullis und Hosen, die ihnen bis in die Kniekehlen hingen. Einer von ihnen hielt eine Schnapsflasche in der Hand.

      Unwillkürlich kroch ich etwas tiefer in meine Jacke, als könnte ich mich dadurch unsichtbar machen. Solche Typen waren mir nicht geheuer, und ich hatte keine Lust, mich von denen blöd anquatschen zu lassen. Doch zum Glück steuerte die Gruppe direkt die andere Seite des Bahnsteigs an, ohne mich weiter zu beachten. Sie waren ganz auf die Frau vor sich fixiert, doch die schien auch genug von den Jungs zu haben und drehte sich gerade um, um ihnen mit wütend blitzenden Augen die Meinung zu geigen. Aber die jungen Männer lachten nur.

      Das arme Mädel. In dem Alter alleine mit vier Typen unterwegs zu sein, war echt kein Spaß. Vermutlich war einer von denen ihr Freund oder zumindest Schwarm und musste sich jetzt betrunken vor seinen Kumpels beweisen, was ihr gehörig auf die Nerven ging. Wenn es so war, war dieser Kerl ein Idiot, denn mit ihren kupferroten Haaren war sie in meinen Augen wunderschön und hätte wahrscheinlich jeden haben können. Aber was ging es mich an?

      Ich überließ die fünf ihrem Gezanke und Gegacker und zog mein Handy hervor, das soeben vibrierend den Eingang einer neuen Nachricht gemeldet hatte. Es war allerdings nicht wie erwartet Nele, sondern meine Tante, die eine Entscheidungshilfe brauchte, ob sie im Urlaub wirklich nach Spanien fliegen oder doch lieber in Deutschland bleiben sollte. Ich unterdrückte ein Stöhnen, beschloss, dass die Antwort Zeit bis morgen hatte, und steckte das Handy wieder weg.

      Als ich anschließend aufblickte und über den Bahnsteig schaute, hatten die vier jungen Männer ihre weibliche Begleitung umringt, und der größte von ihnen rückte ihr ziemlich auf die Pelle. Na also. Hätte ich darauf wetten müssen, wer zu der Rothaarigen gehörte, hätte ich auf genau ihn getippt. Was immer sie an ihm fand, denn von meinem Freund hätte ich mir gewünscht, dass er seine Kumpels auf Abstand hielt. Aber offenbar waren sie dafür bereits zu betrunken. Wie zum Beweis reichten sie jetzt dem Mädchen die Schnapsflasche, doch sie schüttelte den Kopf und versuchte, einen der Typen von sich zu stoßen. Der Große direkt vor ihr hob eine Hand, um ihr beruhigend eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.

      Nun nimm sie schon in den Arm und bring sie von deinen blöden Freunden weg!, dachte ich im Stillen und wollte mich gerade von der Szene abwenden, als ich bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Sie ließ sich nämlich nicht in den Arm nehmen, stieß auch den Großen von sich und schien mit aller Macht einen Ausweg zu suchen.

      Ich runzelte nachdenklich die Stirn und versuchte zu verstehen, was dort vor sich ging. Im selben Moment schaute die junge Frau in meine Richtung, und als sich unsere Blicke trafen, sah ich die Panik in ihren Augen. Schlagartig wurde mir klar, dass das keine normale Zänkerei unter Jugendlichen war, sondern dass sie überhaupt gar nichts mit den jungen Männern zu tun hatte und unfreiwillig in ihre Fänge geraten war.

      Angespannt stieß ich mich von der Metallbrüstung ab. Das Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals, und ich blickte Hilfe suchend über den Bahnsteig. Die anderen mussten doch auch merken, was da los war. Aber niemand rührte sich. Im Gegenteil. Der Skater hatte sich eher ein Stück vom Schauplatz entfernt. Die Quasselstrippen tuschelten mittlerweile nur noch miteinander. Die Frau aus der Drogerie hatte sich der Scheibe des Wartehäuschens zugewandt, um in deren Spiegelbild ihre Haare zu richten. Und der Anzugträger zündete sich die nächste Zigarette an und tat so, als linste er nicht ständig verstohlen zu der Szene rüber.

      Na toll! Hallo?! Konnte bitte mal jemand dahin gehen und dem Mädchen helfen?

      Ein Teil von mir drängte, dass ich selbst etwas tun sollte. Ein anderer zweifelte noch. Was, wenn ich die Situation falsch interpretierte und das Mädel doch