„Prüfst du mal die Klebestellen?“, forderte Margitta ihren Mann auf. Der nickte nur tonlos und schlich zum Arbeitszimmer.
Sie hockte sich auf die vordere Kante des Sofas und ging die Post durch, die sie mit dem Zeigefinger grob aufriss. Das hätte Papa nie sehen dürfen, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Wo er doch immer so penibel war, bis zuletzt! Die Frau strich glättend über das Papier. Der Brieföffner? Lag im Arbeitszimmer, also keine gute Idee. Sie gab sich einen sichtbaren Ruck und saß jetzt kerzengrade. Dann stapelte sie die Schreiben auf die entsprechend vorsortierten Haufen. Wichtig war nur, dass keine eventuelle Mahnung übersehen und die Rente ordnungsgemäß aufs Konto überwiesen wurde. Zuletzt hielt Margitta ein mehrseitiges Schreiben der Rentenversicherung in der Hand, das eine baldige Rentenerhöhung versprach und alles detailliert auflistete. Sie seufzte erleichtert auf. So ein Segen aber auch …
„Alles in Ordnung. Ich musste nichts nachbessern“, sagte Edward und ließ sich ebenfalls aufs Sofa sinken. Er hatte sich aus der Küche eine Flasche Cognac mitgebracht und schenkte beiden in die Kristallgläser ein, die er in der anderen Hand gehalten hatte. Die stammten noch aus Mutters Zeiten, die schon lange vor ihrem Mann verstorben war. Das Kuchenpaket hatte er geöffnet. Drei verschiedene Stücke lagen darin.
„Na dann, zum Wohl!“
Margitta ergriff ihr Glas und prostete Edward leicht zu. Sie war nicht wirklich bei der Sache.
„Ich weiß nicht, wie lange wir das hier noch durchhalten können. Aber schau mal, bald gibt es wieder etwas mehr Rente!“
Sie hielt Edward das Schreiben hin, der ein Bein ausstreckte und zunächst auf den Bodenschalter der Stehlampe trat.
„Ich kann sonst nichts erkennen. Vor allem nicht bei dem dämlichen Geflacker! Da bekommt man nur Kopfschmerzen von. Ich verstehe gar nicht, warum du auf dieses schrecklich kitschige Teil bestanden hast.“
„Aber die Deko hatten die beiden doch schon so lange. Ich wollte einfach eine geliebte Tradition bewahren. Es sieht irgendwie aus wie früher.“
„Schon gut“, beschwichtigte Edward und blickte auf die Zahlen im Schreiben der Rentenversicherung. Nebenher langte er nach dem ersten Kuchenstück, um es zu verzehren.
„Junge, Junge, da kann unsereins nicht mithalten“, sagte er, als er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte. „Womit haben die Alten eigentlich diese horrenden Renten verdient. Doch wohl kaum mit ehrlicher Arbeit. Und dann noch Jahr um Jahr eine Erhöhung, immer angepasst an die gesamte Lohnentwicklung im Lande, wie es offiziell heißt. Da kriege ich einfach einen dicken Hals. Weder du noch ich haben in der zurückliegenden Zeit mal mehr Lohn bekommen. Ganz im Gegenteil. Mir haben sie sogar das Urlaubs- und Weihnachtsgeld gestrichen, weil es dem Unternehmen angeblich so schlecht geht und man ja unbedingt unsere Arbeitsplätze erhalten will! Dabei schaufeln die sich in den Chefetagen immer mehr Geld in ihre Taschen. Ich könnte platzen vor Wut.“
„Sei nicht ungerecht“, fiel ihm Margitta ins Wort. „Papa war immer fleißig …“
„… und hat sich bis zu seinem 55. Lebensjahr abgeschuftet, ehe er gepflegt in Vorruhestand ging. Dass ich nicht lache“, empörte sich Edward.
Margitta standen Tränen in den Augen.
„Tut mir leid, Liebes, ich habe das nicht so gemeint. Er ist ja auch abgewickelt worden, wofür er nun wiederum überhaupt nichts konnte! Und immerhin tut dein alter Herr ja im Nachhinein etwas Gutes für uns. Wenn auch ziemlich unfreiwillig.“
Beide schwiegen einen Moment. Der Mann verzehrte jetzt das zweite Kuchenstück.
„Mich haben ja deine Eltern nie wirklich gemocht“, fuhr Edward schließlich fort.
„Ach, Eddi, so ist das nun mal mit Schwiegerverhältnissen. Deinen Eltern war ich doch auch nicht recht. Das haben sie mich deutlich spüren lassen. Eine Fischverkäuferin war einfach unter ihrem Niveau.“
„Stimmt auch wieder. Aber die Sorgen mit ihnen sind wir ja los, jetzt wo wir beide Vollwaisen sind … Ich stehe übrigens auf Fischverkäuferinnen. Kabeljau, sage ich nur. Paniert, dazu Sauce hollandaise und frische Kartoffeln. Es gibt nichts, was besser schmeckt. Und Fisch riecht nach See und Meer, einfach wunderbar, so wie du. Ich liebe dich.“
Edward nahm Margitta in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Sie wirkte etwas unwillig, aber zugleich gerührt.
„Was du nicht sagst. Kabeljau habe ich noch im Froster. Den könnte ich morgen machen.“
Die Frau lenkte das Gespräch auf einen neutralen Boden.
„Unbedingt!“
Das kam wie aus der Pistole geschossen. Edward leckte sich die Lippen und strahlte.
Margitta löste sich aus der Umarmung.
„Kannst du dich noch an die Geschichte mit dem Getreidesilo erinnern, die Papa immer erzählt hat?“
Edward nickte.
„Bis ins kleinste Detail! Kannst mich ruhig abfragen.“
„Ach, das meine ich nicht. Aber es muss doch furchtbar für ihn gewesen sein, als er damals diesen Auftrag bei der Hühnermastanlage erledigen musste und die anderen sich schon in den Feierabend verabschiedet hatten, er aber unbedingt den Rest aus dem Farbeimer verstreichen wollte, weil er doch immer so umsichtig war und nichts umkommen lassen konnte. Der Bodensatz wäre ja vielleicht eingetrocknet …“
„… ja, und dann kippte seine Leiter, und er stürzte kopfüber in den Getreidesilo mit dem Weizen für die Tiere“, fuhr Edward nachdenklich fort.
„Und wäre nicht sein Kollege noch einmal zurückgekommen, weil er etwas vergessen hatte, dann wäre das sein Ende gewesen“, ergänzte Margitta die Familiengeschichte. „Nur mit vereinten Kräften konnten sie ihn gerade noch retten. Er wäre sonst erstickt.“
„Ich stelle mir das schrecklich vor, einfach so in dem Zeug zu versinken. Da brüllst du dir die Seele aus dem Leib, und es gibt keine Hoffnung auf Hilfe“, antwortete jetzt Edward mit ernster Stimme.
„Weißt du, Eddi, aber lach mich nicht aus, wenn ich das jetzt sage …“
„Versprochen!“
„Ich muss immer an seine Klaustrophobie denken, die sich dadurch bei ihm entwickelt hatte. Fahrstühle waren für ihn die Hölle, ein absolutes Tabu, deshalb ist er ja auch hier so tief unten eingezogen … Und bei dem MRT, das er noch zuletzt hatte, ist er bald durchgedreht, als sie ihn in diese Röhre geschoben haben. Da hat er schon nach nicht mal einer halben Minute den Notknopf gedrückt, und weil sie ihn für einen Hypochonder hielten und nicht schnell genug befreit haben, ist er im Liegen rausgekrochen. Gelenkig war er ja, selbst noch in seinem Alter.“
„Worauf willst du denn hinaus?“, wollte Edward wissen.
„Du hast versprochen, nicht zu lachen!“
Margitta blickte ihrem Mann direkt in die Augen.
Edward nickte.
„Ich denke oft daran, dass er mit dieser Enge, der er jetzt ausgesetzt ist, überhaupt nicht klarkommen würde. Immer nur eingesperrt in diesem kleinen Raum!“
„Aber er ist doch tot. Und später im Sarg ist es ja noch beengter.“
Edward blickte verständnislos auf seine Frau. Nach Lachen war ihm überhaupt nicht zumute.
„Willst du nicht wenigstens das dritte Stück essen?“, erkundigte er sich. „Eigentlich kann ich nicht mehr. Ich glaube, mein Sodbrennen setzt mal wieder ein.“
„Auf keinen Fall“, antwortete Margitta, während sie sich schüttelte. Dann legte sie ihren Kopf etwas schräg. Ihr ursprüngliches Thema war noch nicht beendet.
„Weißt du genau, ob er nicht doch noch etwas empfindet? Es gibt ja in dieser Hinsicht auch andere Auffassungen. Vielleicht ist seine Seele gefangen in dem Zimmer und ängstigt sich.“
„Das