Pralinenschachtel anfing zu qualmen, die offen stehende Haustür mitten in der Nacht …
Wenn Swenja zur Arbeit ging, dann redete sie zuvor behutsam auf die Mutter ein, was sie alles bedenken möge. Aber sie hätte auch in den Wald hineinrufen können. Nichts, aber auch gar nichts blieb hängen. Im Gegenteil. In allen Dingen wurde genau anders gehandelt. Natürlich hatte Swenja über all das gelesen, was mit Demenz zu tun hatte. Es gab so viele Parallelen. Ihr Versuch, den Pflegegrad der Mutter hochzusetzen, um auch Pflegepersonal anfordern zu können, scheiterte. Wenn da jemand von Amts wegen kam, um entsprechende Fragen zu stellen, dann brillierte die alte Frau mit ihren Antworten wie in ihren besten Jahren und bewegte sich durchs Haus wie ein junges Mädchen. Und wenn – ganz selten – Sybilla auftauchte, dann plauderten und lachten Mutter und Tochter, als ob nichts in ihrer beider Leben geschehen wäre …
Swenja löste sich erschrocken aus ihren Erinnerungen. Das Ton-Geröll-Sand-Stein-Gemisch rutschte in diesem Augenblick donnernd den Abhang hinunter, während Sybilla auf dem Boden lag. Sie wurde schlagartig von den Massen überrollt und begraben. Swenja hatte sich intuitiv rechtzeitig erhoben, war ein Stück zurückgesprungen und hatte sich damit in Sicherheit gebracht. Als wieder Stille eingezogen war, betrachtete sie den Ort des Geschehens. Jetzt dröhnte neuerlich das Nebelhorn. Eine Hand der Schwester ragte aus dem Untergrund, die Finger bewegten sich leicht, krallten in die nebelfeuchte Luft.
Swenja überlegte ganz kurz. Dann drehte sie sich um, lief zur Treppe Richtung Dornbuschwald und stieg die etwa hundert Stufen empor, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.
Im Restaurant bestellte sie sich den Grog, von dem die Schwester gesprochen hatte.
„Na, bei dem Schietwetter so allein unterwegs?“, hatte der Kellner freundlich gemurmelt. „Da kann doch allerlei passieren. Aber jetzt sind Sie ja hier und können sich in Ruhe ein wenig stärken. Und dann geht es sicher geradewegs zum Schiff zurück?“
Er sprach Hochdeutsch und schien nicht von der Insel zu sein. Sie hatte nur genickt, obwohl er nicht wirklich auf eine Antwort wartete.
Irgendwann nahm sie den Weg Richtung Hafen in Kloster, nun doch nicht mit dem Umweg über Grieben, wie zuvor der Schwester vorgeschlagen. Dafür hätte die Zeit nicht mehr gereicht. Sie musste pünktlich sein, um die letzte Standardverbindung zu erreichen.
Später auf dem Schiff nach Stralsund, wo die beiden Schwestern Quartier genommen hatten, stand sie wieder an der Reling. Es gab nur wenige Reisende an Bord. Sie atmete jetzt unbeschwert die köstlich-salzige Luft tief ein und aus. Die Nebelfeuchte störte sie nicht. An der Kapuze hatte sie, ohne nachzudenken, endlich einen festen Knoten gebunden, damit sich die sonstige einfache Schleife nicht immer wieder löste. Sie ließ sich die Gischt ins Gesicht sprühen.
Ein paar Möwen begleiteten sie mit lauten, fordernden Schreien. Dann fielen ihr die Streuselschnecken von Bäcker Kasten ein. Die lagen noch in ihrem Rucksack. Dafür würde sie jetzt dankbare Abnehmer finden. Swenja öffnete den Reißverschluss und zog die durchgefettete Papiertüte heraus. Dann brach sie Stückchen für Stückchen von dem Gebäck ab und warf es in die Höhe. Ihre Finger klebten, aber das nahm sie nicht wahr.
In dieser Nacht schlief sie tief und fest, so gut wie lange nicht mehr. Am nächsten Morgen entschied sie sich beim Frühstück für die sofortige Rückreise.
„Und Ihre Schwester? Bleibt sie noch ein paar Tage?“, erkundigte sich die freundliche Mitarbeiterin an der Rezeption.
„Ja, das hatten wir gestern spontan so ausgemacht!“, sagte Swenja mit einem breiten Lächeln. Jetzt freute sie sich sogar auf die Rückfahrt im Auto auf der A 20, die im Gegensatz zu damals mit Knut die Anreisezeit inzwischen erheblich verkürzte.
Swenja war eingenickt. Die fast siebenstündige Autofahrt hatte sie doch ziemlich angestrengt. Aber ein unerfindlicher Drang hatte sie nach ihrer Ankunft daheim in diese Wohnung genötigt.
Irgendwann gab sie sich einen Ruck und öffnete die Augen. Du hast nichts falsch gemacht, alles ist gut, sagte sie sich. Dann erhob sie sich und verließ die Wohnung, die ihr jetzt unheimlich vorkam. Auf dem Rückweg begegnete sie niemandem.
2. Kapitel
Neben der Spur
„Ich gehe mal zur Tür“, sagte Walther zu sich. Seit geraumer Zeit schon führte er Selbstgespräche, damit wenigstens eine Stimme in der Wohnung zu vernehmen war. Andere Leute wichen ja auf Dauerbeschallung durch Radio oder Fernseher aus, hatten Letzteren schon am frühen Morgen eingeschaltet. Das wäre für ihn niemals infrage gekommen.
Er hatte Swenjas hallende Schritte im Hausflur wahrgenommen. Ein Blick durch den Spion verkündete ihm Leere. Es dauerte ein Weilchen, ehe er alle Riegel zurückgeschoben und den Schlüssel, den er von der Hutablage genommen hatte, ins Schloss gesteckt und zweimal nach rechts gedreht hatte. Einen Spalt nur öffnete der alte Mann die Wohnungstür und ließ seine Blicke erfolglos wandern. Dann zog er die Tür wieder in ihre ursprüngliche Position und aktivierte alle Einbruchssicherungen. Der Schlüssel landete erneut auf seinem speziellen Platz. Er schlurfte durch den Flur zurück, die braun-gelb karierten Pantoffeln schienen an seinen Füßen zu kleben.
„Niemand da“, brummte er in seinen ungepflegten Bart, das lichte Haupthaar lag flusig durcheinander und stand zum Teil in die Höhe. Aber Martha, die am Fenster saß, reagierte nicht. Sie hatte es sich in ihrem Ohrensessel gemütlich gemacht und sich dafür ein weiteres Kissen unter den Hintern geschoben, damit sie etwas erhöht sitzend auch aus dem Fenster schauen konnte. Ihre Füße standen auf einem kleinen, stoffbezogenen Höckerchen. Ohne dessen Hilfe hätten sie den Boden nicht erreichen können und ihre Beine hätten nur im Leeren gebaumelt. Sie trug ein frühlingshaftes Kleid mit Mohnblumen darauf. Ihren Büstenhalter hatte sie darüber angezogen. Keiner der beiden Eheleute nahm das wahr. Die Hände hatte Martha ineinandergefaltet und die Finger jeweils zwischen die anderen gesteckt. Nur die Daumen kreisten unermüdlich umeinander. Sie schien Walthers Bemerkung nicht gehört zu haben.
Aufräumen, dachte der Alte, als seine Augen über den Esstisch wanderten. Der stand in einer Nische des großzügigen Wohnzimmers und war direkt von der Küche aus zu erreichen. Auf ihm befanden sich Tassen, Teller, Gläser, und einige Bestecke kreuzten sich dazwischen. Reste von längst vergangenen Mahlzeiten nahmen undefinierbare Gestalt an. Eine übrig gebliebene Brotscheibe krümmte sich in die Höhe. Der Gedanke mit dem Aufräumen, der gleichzeitig mit jenem Stichwort Frauenarbeit kombiniert war, hatte sich längst verflüchtigt.
Walther verspürte weder Hunger noch Durst. Er zog sich die fleckige Anzughose hoch und nestelte an seiner Krawatte. Das einst weiße Hemd war farblich in einen Grauton übergegangen. Knitterfalten überzogen es. Der Alte machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Dort setzte er sich an den Schreibtisch, vor seinen Computer, und streichelte behutsam über die Tastatur. Rechter Hand in einer Ablagekiste befanden sich Briefe von den Kindern, die jüngsten Sendungen ungeöffnet. Der Sohn lebte mit seiner Familie in den Staaten, die Tochter jettete für ihren Reiseveranstalter um die ganze Welt.
„Lieber Paps, liebe Mam, so gerne wir übers Fest nach Hause kommen würden, so leid tut es uns, dass wir das in diesem Jahr nicht einrichten können. Die Arbeit hält uns beide hier in Manhattan fest. So wie wir uns das schon gedacht hatten. Leider, leider! Weder Jane noch ich können uns freimachen. In der Klinik ist der Teufel los. Wir müssen uns um so viele Menschen sorgen, die an dem Virus erkrankt sind. Dafür habt ihr ja sicher Verständnis. Schließlich haben wir als Ärzte einen Eid geschworen, der uns zur Hilfeleistung verpflichtet, was wir natürlich von Herzen gern tun … Und wenn du, lieber Paps, im kommenden Jahr deinen 90. feierst, dann sind wir auf jeden Fall dabei … Ihr könnt uns für die riesige Party schon einmal einplanen … In der Zwischenzeit könnte euch ja mein Schwesterherz mal Skype einrichten. Das ist total einfach und ihr könntet eure Enkel sehen. Ihr glaubt gar nicht, wie sehr die schon wieder gewachsen sind …“
Das hätte Walther im aktuellsten Brief seines Sohnes lesen können, wenn er ihn gelesen hätte. Auch die bohrende Frage, warum denn niemand ans Telefon gehe, die aber gleich selbst beantwortet wurde: „… bestimmt seid ihr viel auf Achse und mit den Senioren unterwegs …“
Marie-Ann