eröffnete Elizabeth das Gespräch, als Swenja auf ihrer Höhe angelangt war, „ganz allein? Ich denke, Sie wollten mit Ihrer Schwester zusammen die frische Seeluft genießen!“
Auch so ein Schwachsinn, frische Seeluft um diese Zeit! Und dann im Zusammenhang mit Genuss. Da blieb man doch lieber mit seinem Arsch daheim, galoppierten Elizabeths Gedanken weiter.
„Guten Abend“, kam es zögerlich von Swenja und dann erklärend: „Ja, wir waren auf der Insel. Aber ich musste zurück. Die Pflicht ruft, wissen Sie. Ich konnte mir nicht länger freinehmen. Und Sybilla wollte noch ein wenig im Urlaub bleiben, die Auszeit quasi allein verlängern …“
„Hm?!“
„Eigentlich will ich nur fix nach der Post schauen. War nett, mit Ihnen zu plaudern, aber jetzt muss ich los. Bin auch gleich wieder verschwunden. Ihnen noch eine schöne Adventszeit!“
Swenja schaute nervös auf ihre Armbanduhr. Und im selben Augenblick war sie, ohne ein weiteres Echo abzuwarten, im Haus verschwunden.
Schöne Adventszeit, auch so ein frommer Spruch, entrüstete sich Elizabeth innerlich. Was ist denn daran schön, wenn ich in der Kälte hier draußen stehe und mir der Frost durch die Knochen kraucht?
Swenja leerte in Windeseile den Briefkasten und sauste ins Treppenhaus, dort nahm sie bis zur ersten Etage immer zwei Stufen auf einmal. Dass am Fahrstuhl das übliche Schild „Außer Betrieb“ hing, nahm sie nicht wahr. Für den kurzen Weg hatte sie sowieso noch nie auf diese Transporthilfe gebaut, selbst nicht mit reichlich Gepäck. Es roch in diesem engen Kasten immer nach irgendwas. Es reichte ihr schon völlig aus, wenn sie den Mief wahrnahm, während andere Bewohner ein- oder ausstiegen.
Swenja verlangsamte ihr Tempo nur etwas, stieg mit raschen Schritten die weiteren Stufen nach oben. Ihre feine Nase witterte weiter. Es roch muffig im Flur, nach alten Leuten, die ihrer Körperhygiene nicht mehr so viel Zeit widmeten, vielleicht auch nach Inkontinenz. Sie rümpfte die Nase und hatte schon die Etage hinter sich gelassen. Von den Mietern dort wusste sie nicht viel. Ein älteres Ehepaar, das sie bislang kaum zu Gesicht bekommen hatte.
Augenblicke später befand sich Swenja vor der Wohnungstür ihrer Schwester und atmete tief durch, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Die Tür zog sie gewissenhaft hinter sich zu und ließ sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen. Dort schloss sie die Augen und tauchte in ihre Erinnerungen ab …
… Eintönig dröhnte das Nebelhorn. Sein Klang schien sich in den Feuchtigkeitsfetzen zu verfangen, die in der Luft hingen. Swenja zog die Kordel ihrer Kapuze fester und band mit klammen Fingern zum wiederholten Mal eine Schleife, die sich immer wieder nach einer Weile löste und dabei den Wetterschutz vom Kopf rutschen ließ. Doch zu einem Knoten konnte sie sich nicht durchringen, das hätte sie zu sehr am Hals beengt, ihr wieder diese panikartigen Zustände verschafft, bei denen sie nur hechelnd atmete, weswegen sie schon in psychologischer Behandlung war. Aber nichts half.
Ihr schmerzten die Ohren von dem durchdringenden Warnton, der in regelmäßigen Abständen erneut Anlauf nahm und machtvoll anschwoll. Am liebsten hätte sie sie mit den Händen zugehalten, aber das hätte nichts gebracht. Das Brummen des Signals ließ ihren gesamten Körper vibrieren.
Swenja stapfte durch den nassen, schweren Sand. Das Leder der Sportschuhe war am unteren Rand schon dunkler geworden, und sie spürte fröstelnd, dass die Feuchtigkeit bereits bis auf die Socken durchgedrungen war. Sie hätte sich besser für gefütterte Gummistiefel entscheiden sollen, aber bei Reiseantritt schien noch die Sonne. Deshalb hatte sie die auch gar nicht in Erwägung gezogen.
Es roch intensiv nach dem Schlick, in dem sich graue Schaumkrönchen tummelten. Jetzt blieb sie stehen, wischte sich die Nässe aus dem Gesicht und blickte Sybilla hinterher, die forschen Schrittes fast fünfzig Meter vor ihr lief. In dem Moment verhielt auch die Schwester und drehte sich um. Sie winkte lebhaft und rief lautstark: „Jetzt komm aber mal in die Hufe, alte Trödelliese!“
Bekannte Worte, die nach Kindheit klangen. „Alte Trödelliese!“ Wie oft hatte die Mutter das mit einer Zornesfalte auf der Stirn von sich gegeben, und die kleine Schwester griff es dann jedes Mal auf, um es wie eine Schallplatte mit einem Sprung zu wiederholen, bis die Mutter sie lächelnd stoppte, sie in die Arme schloss und ihr zärtlich über die blonden Locken strich. Und sie? Sie stand daneben, konnte sich nicht rühren, war wie gelähmt.
Swenja beschleunigte ihre Schritte, um Sybilla einzuholen, die ihren Weg schon wieder fortgesetzt hatte. Es dauerte nicht lange, dann waren die beiden Frauen auf gleicher Höhe.
„Na, aufgewacht, Schwesterlein?“, erkundigte sich Sybilla mit einem Grinsen im Gesicht und stieß sie freundschaftlich in die Seite.
„Wir sind schließlich auch hier, um die Schönheit der Natur zu genießen“, lenkte Swenja ein und ärgerte sich im selben Augenblick über ihre Antwort. Da war sie wieder, diese ewige Rücksichtnahme, dieses laufende Sich-entschuldigen-Müssen.
Sybilla lachte auf.
„Na, du bist gut. Es ist ein Scheißwetter, und du willst hier irgendwelche Schönheiten genießen. Dass ich nicht lache. Hast ja einen wunderbaren Termin für unseren Ausflug ausgesucht. Wie immer. Da höre ich einmal auf dich und gleich geht alles in die Binsen. Wir hätten doch die Malediven für einen ordentlichen Trip zu dieser Jahreszeit nehmen sollen. Ich hätte das auch notfalls gesponsert, immerhin liegt mein Gehalt geringfügig höher als das deinige. Da könnten wir jetzt gemütlich unter einem Sonnenschirm relaxen und einen exotischen Drink nach dem anderen schlürfen. Ein paar ansehnliche Kellner um uns herum. Aber du musstest wegen absurder, verklärter Erinnerungen ausgerechnet nach Hiddensee.“
Das war das Stichwort. Auf dem „söten Länneken“, wie die Einheimischen es nannten, hatte Swenja einst einen Urlaub mit ihrer großen Liebe verbracht. Knut! Die nicht einmal zwanzig Quadratkilometer waren sie Stück um Stück abgewandert, jedenfalls überall dort, wo es möglich und gestattet war. Gelegentlich mal zur Abkürzung über eine abgesperrte Wiese, unter den neugierigen Blicken der wiederkäuenden Kühe und mit äußerster Vorsicht, damit sie keinen Schlag an den sichernden Drahtzäunen bekamen.
Die Naturschutzgebietsschilder bremsten sie indes an etlichen Stellen aus. Sie wiesen energisch mit Verboten darauf hin, was alles in diesem Teil des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft nicht gestattet war. Da war Knut doch sehr gewissenhaft. Er studierte in jener Zeit und wollte Lehrer werden. Biologie interessierte ihn vor allem, sein Hauptfach. Nur 250 Meter sei das kleine Inselchen an der schmalsten Stelle dünn und knapp vier Kilometer an der breitesten Stelle stark, hatte er damals doziert, belesen, wie er war.
Hiddensee, ganz nah der Insel Rügen vorgelagert, hätte auch einen Ausflug zum größeren Nachbarn erlaubt, hatte er nebenher eingeräumt. Aber das war gar nicht nötig. Das kleine Eiland fesselte beide. Und sie waren verliebt, Swenja jedenfalls schwebte auf Wolken und träumte schon von der ganz großen, unbedingt weißen Hochzeit, in einem Blumenmeer, im Beisein der stolzen Eltern und der Schwester, mit sämtlichen Freunden und Bekannten. Und sie dachte, es würde Knut ebenso ergehen. Ihrer beider Liebe sei unumstößlich.
Doch ein paar Tage später war die kleine Schwester einfach so angereist und hatte sich eingemischt, wie immer. Das war peu à peu geschehen. Erst die intensive Umarmung bei der Begrüßung, dann da ein Blick, dort eine scheinbar zufällige Berührung. Swenja hatte einfach nichts bemerkt oder wollte nichts bemerken, selbst als Knut eines Nachts betont leise aufstand, sich zurückzog und erst Stunden später zurückkehrte, um die Decke über den Kopf zu ziehen, selig zu stöhnen und Augenblicke später in ein Schnarchen zu verfallen. Es war nicht mehr sein Geruch, der ihn umfing, er hatte den ihrer Schwester angenommen.
Zuletzt sah sie sich auf dem Schiff, das wieder heimwärts fuhr, an der Reling stehen. Zunächst brachte es sie nach Stralsund. Ohne den Mann an ihrer Seite. Der blieb mit Sybilla zurück, und später heirateten die beiden – so groß, wie sie sich das eigentlich für sich vorgestellt hatte. Swenja fungierte mechanisch und wie versteinert als Trauzeugin, hatte doch Knut darauf bestanden, dass sie gute Freunde blieben. Aus einer Laune heraus hatte sie sich für die Hochzeit eine Dauerwelle und ein ebensolches Blond wie ihre Schwester zugelegt, was eine verblüffende