Andrea Gerecke

X-Mas: Hochdramatisch


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von Swenja.

      „Was soll ich, verdammt noch mal, wissen?“, fuhr Sybilla sie grob an, zückte ein Zellstofftaschentuch und schnaubte sich geräuschvoll die Nase. „Wenn ich mir hier mal nicht eine heftige Erkältung eingefangen habe! Und daran bist nur du schuld! Ich glaube kaum, dass ich das übers Wochenende auskurieren kann. Und Montag habe ich die große Präsentation vor der Geschäftsleitung. Dabei geht es für mich um alles, um den Aufstieg innerhalb des Unternehmens, um den nächsten Sprung auf der Karriereleiter. Oh, du bist so was von unmöglich.“

      Bei diesen Worten stapfte sie weiter stur voran.

      Swenja hatte nicht zugehört. Sie hing schon wieder ihren Gedanken nach. Den einen Urlaubstag vor dem Wochenende hatte sie sich extra in ihrer Firma erbeten, für eine private Angelegenheit. Die Situation mit der Schwester bedrückte sie seit Jahren, und sie wollte sich einmal mit ihr aussprechen, so richtig gründlich. Wenn dann Sybilla um Verzeihung bitten würde, dann würde sie dem nachgeben und alles wäre endlich gut! So malte sie sich die Situation wieder und wieder aus. Sie sagte keinem, was sie vorhatte, und eigentlich interessierte sich auch niemand wirklich dafür beziehungsweise für sie.

      „Dass Sie mir Montag aber wieder pünktlich an der Arbeit sind“, hatte der Chef nur nüchtern gemeint. „Wir bekommen die Lieferungen mit den neuen Büchern von der Bestsellerliste. Die müssen alle einsortiert sein, ehe wir öffnen. Schließlich greifen die Kunden zuerst danach. Umsatz, Umsatz, Umsatz!“ Seine übliche Formulierung klang ihr lange in den Ohren.

      Swenja war in ihrem Traumberuf angekommen. Sie arbeitete in einer großen Buchhandlung, seit dem Tod der Mutter wieder Vollzeit. Und die Gründlichkeit, die sie auszeichnete, kam ihr sehr zustatten. Sie beriet eben leidenschaftlich gern und fand stets heraus, was auf den einzelnen Kundenwunsch zugeschnitten war. Manches dauerte deshalb bei ihr etwas länger, aber dafür waren die Käufer immer zufrieden, und es kamen nie Klagen, sondern nur lobende Worte, die der Chef indes herunterspielte, während er seinen Standardkommentar fallen ließ, dass ein wenig mehr Schnelligkeit schon angebracht wäre. Einmal hatte er gemeint, man könne ja mal erfassen, wie viele Minuten sie benötigte, um ein Buch an den Mann oder die Frau zu bringen. So wie in den Callcentern oder bei großen Versandunternehmen, wo alles akribisch erfasst würde, jedes Wort, jeder Handschlag, und wo es Richtzeiten für alles Tun gäbe. Da würde sie garantiert auf dem letzten Platz im Team landen und wäre bei der nächsten Entlassungswelle dabei. Er hatte daraufhin gelacht, als wäre das ein ganz toller Witz. Gar nicht mehr aufhören wollte er mit seinem Gelächter.

      Die beiden Schwestern liefen jetzt unterhalb der etwa vierhundert Meter langen Huckemauer. Auf ihr zu gehen, das verbot sich aufgrund der Nässe. Bei Trockenheit war es einfach nur aufregend, aber jetzt war alles schmierig und glatt. Der glänzend schwarze Steinwall schützte das Kliff und stammte noch aus der Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Swenja hatte sich ganz bewusst für den klassischen Weg entschieden, den sie damals auch Hand in Hand mit Knut gegangen war: vom Hafen in Kloster, mit einem kleinen Zwischenstopp beim Bäcker Kasten, wo Swenja diesmal zwei Streuselschnecken als Wegzehrung kaufte, während Sybilla draußen ungeduldig wartete, vorbei am Wieseneck, dann am Gerhart-Hauptmann-Haus und am Inselmuseum, schließlich zwischen den Dünen hindurch, wobei sich ein grandioser Blick aufs Meer bot. Wenn nicht gerade dicker Nebel herrschte, so wie heute.

      Auf den ersten Metern gab es noch ein paar von den Eintagsfliegen, so nannten die Bewohner die Gäste etwas abfällig, die nur für ein paar Stunden einen Abstecher nach Hiddensee machten. Eine Zeit, in der man nie und nimmer einen Eindruck von der Schönheit der Insel bekommen konnte, dessen war sie sich sicher. Aber das Wetter ließ die wenigen Touristen heute schnell in den ersten Res­taurants verschwinden. Das Haus des großen deutschen Dichters und das Museum hatten leider geschlossen. Betriebsferien. Am Wasser selbst war keine Menschenseele zu sehen gewesen, wobei die Sichtweite nur ein kleines Stück reichte.

      An der Treppe zum Dornbuschwald hielt Sybilla endlich an, wartete, bis ihre Schwester neben ihr stand, und meinte: „Mir reicht es eigentlich. Wir können doch die Stufen nach oben steigen und uns in der Gaststätte – wie hieß die noch gleich? – einen steifen Grog servieren lassen. Genau nach dem wäre mir jetzt! Der würde uns prima durchwärmen.“

      „Zum Klausner“, fiel es Swenja sofort ein, aber sie verkniff sich die Erklärung und schüttelte nur den Kopf: „Ich würde gern noch ein wenig weitergehen, vielleicht ganz um die Steilküste herum. Und dann laufen wir über Grieben wieder zurück zum Hafen. Das ist ein schöner Weg.“

      Sie schob das Gespräch weiter vor sich her und legte sich im Inneren die Worte zurecht, die auch passen sollten. Dabei wollte sie die Schwester nicht brüskieren, sondern einfach nur für Harmonie sorgen, nach der sie sich ein Leben lang gesehnt hatte.

      Swenja sah den traumhaften Ort Grieben vor sich, mit seinen ungepflasterten Wegen und weiß getünchten Reetdachhäusern. Mit Sanddorn- und Hagebuttenbüschen, mit üppigen Malven vor den Fischerkaten, sich rekelnden Katzen und Schafen, die auf den Hinterhufen stehend Birnen pflückten, einem Alten, der gemächlich ein Netz flickte. So urig und verschlafen zeigte sich damals noch mit Knut der älteste und kleinste Ort auf der Insel mit seinen uralten Feldsteinmauern aus der Slawenzeit, wie er sofort kundtat. Entlang des Boddens zum Enddorn hin erstreckte sich der Ort nördlich von Kloster. Ob sich dort wohl etwas verändert hatte? Wie mochte es bei diesem Wetter da ausschauen? Swenja grübelte.

      „Wie du meinst“, entgegnete die Schwester einlenkend. „Das ist irgendwie heute dein Tag. Ganz ehrlich. Dann will ich mal nicht so sein. Vielleicht klart es ja auch wieder auf, und wir erleben noch einen strahlenden Sonnenschein und die super Aussicht auf alles.“

      Um dem zu widersprechen, legte sich das Nebelhorn erneut ins Zeug und ließ seine Rufe ertönen. Die beiden Frauen liefen jetzt schweigsam nebeneinanderher, bis die ältere Schwester wieder zurückfiel.

      Zwischendurch bückte sich Swenja und hob einen Hühnergott auf, um ihn ein paar Schritte später gedankenlos in den Sand gleiten zu lassen. Ein Fund verschwand in ihrer Jackentasche, vielleicht war es ein Bernstein. Das würde sie später zu Hause testen, da gab es ein paar Tricks, aber jetzt konnte sie sich nicht darauf konzentrieren. Dann fiel ihr Blick noch auf ein vollständiges Exemplar eines Donnerkeils. So einen hatte sie auch noch als Erinnerung aus der Zeit mit Knut daheim. Sie griff sich die Versteinerung und ging weiter. Fast schienen sich ihre Schritte zu verlangsamen.

      Die Steilküste erhob sich massig in die Höhe, wobei nicht viel erkennbar war, der Weg am Strand entlang wurde immer schmaler. Es ging nur noch über felsigen Untergrund. Sybilla rutschte plötzlich aus und fiel fluchend auf die Knie.

      „Kein Stück weiter.“

      „Genau“, erwiderte Swenja. „Hier war das damals.“

      Sie ärgerte sich über ihre Worte. So wollte sie gar nicht angefangen haben. Aber die Sätze bildeten sich von allein.

      „Was? Wie? Wovon redest du überhaupt?“, wollte Sybilla wissen, während sie sich mühsam erhob und die sandigen Hände an der Jacke abwischte.

      „Du weißt ganz genau, worauf ich anspiele. Hier hast du damals Knut geküsst. Ihr beiden dachtet, ich würde das nicht mitbekommen, weil ich nicht so schnell zu Fuß war. Aber ich habe alles exakt gesehen. So wie ich überhaupt alles gesehen und bemerkt habe.“

      „Jaja … Das ist nun Ewigkeiten her. Und die Ehe mit ,deinem‘ Knut war auch nicht gerade die Erfüllung. Hättest den Waschlappen ruhig behalten können. Nicht mal zum Kinderzeugen hat er getaugt. Na, zum Glück weilt er nicht mehr unter uns. Der Herzinfarkt vor zwei Jahren war die ideale Lösung mit dem tödlichen Ausgang. Bin ich schon mal in den Genuss einer Witwenrente gekommen. Also, als Pflegefall hätte ich Knut keinen Tag lang zu Hause behalten, sondern mich sofort um einen Platz in einem Heim gekümmert! So ein sabberndes, lallendes Untier gehört weggesperrt!“

      Während dieser letzten Worte hatte sich Swenja der Schwester immer dichter genähert. Sie atmete heftig und stieß sie gegen die Brust, sodass sie nach hinten taumelte.

      „Das lasse ich mir nicht von dir gefallen. Du bist so ein hinterhältiges Aas, und jetzt auch noch die Ehre von Knut beschmutzen. Du hattest ihn überhaupt nicht verdient.