Maike Rockel

Das Konzerthaus


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      In der kleinen Welt, in welcher Kinder leben,

      gibt es nichts, dass so deutlich von ihnen erkannt und gefühlt wird, als Ungerechtigkeit.

      Charles Dickens

      Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de

      © 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

      www.niemeyer-buch.de

      Alle Rechte vorbehalten

      Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

      EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

      eISBN 978-3-8271-8411-5

      Maike Rockel

      Das Konzerthaus

      Prolog

      „Wärest du wenigstens ein Mädchen geworden. Du bist schuld, dass ihr euch geteilt habt!“, kreischte meine Mutter, und ihr absonderlicher Blick, den ich erst später einordnen konnte, ließ mich erschauern.

      Verstehen Sie das? Ich begriff es erst viel später, was sie meinte und was in ihrer abgründigen Seele vorging, aber sie ließ ihre tiefe Ablehnung zu meinem schmerzhaften Wegbegleiter werden. Es war mein Schicksal, dass ich in dem schändlichen Lebenskonzept meiner Mutter keinen Platz hatte.

      Es wäre ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, mich zu lieben, aber sie verweigerte mir ihre Gunst. Sie würdigte mich entweder keines Blickes oder setzte mich auf unverzeihliche Weise herab, obwohl ich wie ein Stern strahlte.

      Ich versuchte, ihre harte Hand abzuwehren. Eine eiserne Hand, die mich nie zärtlich und liebevoll berührte, nie den Weg zu meinen Wangen gefunden hatte, um mich zu streicheln oder eine Träne nach einem Sturz wegzuwischen.

      Knöcherne Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Oberarme. Ihr saurer Körpergeruch und ihre Fahne stiegen mir in die Nase, während mein Bruder mir mit einem Ruck die Hose von den Beinen zog.

      Weinen musste ich. Ich weinte vor Wut und Scham und verlangte, mir das nicht anzutun. Meine Mutter aber hielt mich fest und lachte nur. Sie stieß dabei immer schneller werdende, rhythmische Laute aus, als würde sie keine Luft mehr bekommen und an ihrem eigenen Lachen ersticken.

      Als mein Bruder es wagte, mir einen rosafarbenen Rock anzuziehen, trat ich immer wieder nach ihm. In diesem unfairen Kampf pulsierte das Blut in meinen feinen Äderchen, und mein Gesicht verfärbte sich glühend rot. Als ich ihn schmerzhaft in seine kläglichen Eier stieß, schrie er auf und ließ von mir ab. Sein Lachen erstickte. Aber meine Mutter war unerbittlich.

      „Tanz für uns! Los, dreh dich und lass deinen Rock schwingen“, wieherte sie und nahm einen gierigen Schluck Wodka aus einer alten Saftflasche. Jeder konnte sehen, dass sie eine Säuferin war, trotzdem glaubte sie, ihre Umwelt mit diesem erbärmlichen Trick täuschen zu können.

      Mein Bruder hatte sich schnell gefangen, nahm die Gitarre und sang das Kinderlied aus Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel.“

      Warum meine Mutter diese Oper immer und immer wieder hörte, weiß ich nicht. Sie war keine Freundin der Musikkultur oder ein kontemplativer Feingeist. Vielleicht ergötzte sie sich einfach nur daran, wie unbarmherzig dieses Geschwisterpaar von seinen Eltern getäuscht und ausgesetzt wurde.

      Brüderchen, komm, tanz mit mir, beide Hände reich’ ich dir, einmal hin ...

      „Wenn du jetzt nicht tanzt, dann wird dich Gottes Strafe treffen. Ich verkaufe dich! An einen Kinderpornoring oder an den, der am meisten Geld bezahlt!“

      Natürlich wusste ich damals nicht, was ein Kinderpornoring war oder dass man Kinder verkaufen konnte, aber ich wusste, dass ich nicht noch mehr von Gott bestraft werden wollte. Meine Kindheit war bereits Leid genug.

      Meine bösartige Mutter zwang mich zu hoffen, dass sie mich eines Tages doch lieben könnte, wenn ich mich nur mehr anstrengte! Sie brachte mich dazu zu glauben, es verdient zu haben, im Schatten meines Bruders zu stehen. Sie aber hätte mich lieben müssen. Stattdessen liebte ich den Menschen, der mich demütigte und misshandelte.

      Beide Arme nach oben gereckt, führte ich die Fingerspitzen über meinen Kopf wie zu einem Gebet zusammen, drehte mich zu der Musik wie eine Ballerina und tanzte, tanzte, tanzte. Während ich zu Gott betete, nahm meine Zunge den salzigen Geschmack einer herablaufenden Träne auf.

      Brüderchen, komm, tanz mit mir, beide Hände reich’ ich dir, einmal hin ...

      Meine Mutter hatte viele quälende Ideen, mich für meine Existenz zu bestrafen. Wahrscheinlich wäre es für uns alle besser gewesen, sie hätte mich verkauft. Ich aber überlebte diese dunkle Zeit und gelangte zu der Erkenntnis, dass Gott alle Sünden vergeben wird. Aber diese allmächtige Gnade hatte ihren Preis. Für meine göttliche Vergebung lernte ich Opfer zu bringen, aber auch Opfer zu suchen, um jegliche Schuld zu sühnen.

      I. Kalenderwoche 49/50 2015

      Kapitel 1

      Mone

      An einem winterlich kalten Hamburger Nikolausabend näherte sich ein Mann mit einer Schirmmütze einer blassgrauen, viergeschossigen Jugendstilvilla, drehte behutsam einen zylinderförmigen Schalldämpfer auf die Mündung seiner schwarzen Pistole und verbarg die Waffe unter seiner Jacke. Er schnippte den Stummel seiner Zigarette auf die unberührte, hauchdünne Schneedecke und richtete seinen Blick auf das Etablissement.

      Alle vierzehn Fenster des Hauses waren von außen mit aus grünen Tannenzweigen gesteckten Kränzen, die mit schwungvoll gebundenen, roten Schleifen verziert waren, festlich geschmückt.

      Durch die an der Eingangstür angebrachten Leuchtkegel erstrahlte die weihnachtliche Fensterfassade in warmem Licht und erinnerte an die Türchen eines noch unberührten Adventskalenders.

      Lediglich das dezente kleine Metallschild mit der Aufschrift Flow Nightclub wies darauf hin, dass in diesem gehobenen Lokal nichts unberührt blieb und keine christlichen Wünsche erfüllt wurden.

      Nur ein Mann und eine Frau saßen im schummrigen Licht an der aus Mahagoni gebauten, sechs Meter langen Bar. Direkt bei der Frau lag auf dem Tresen neben ihrem Smartphone und einer Schachtel Zigaretten ein elegantes Damenfeuerzeug, auf dem versteckt auf einer Seite Mone eingraviert war. Im Hintergrund spielte leise Musik. Simone trug einen noblen, schmal geschnittenen, dunkelblauen Hosenanzug, der zu einem verstohlenen Blick in das aufreizende Dekolleté und auf die rote Spitze ihres Bustiers verführte. Sie war blond, annähernd fünfunddreißig Jahre alt, hübsch und hatte himmelblaue Augen. Ihr knallroter Lippenstift setzte einen Akzent in dem sonst dezent geschminkten Gesicht. Interesse vorgebend, fuhr sie sich immer wieder mit ihren rot lackierten, langen Kunstnägeln durchs Haar, während der Mann auf sie einredete und hierbei gelegentlich seinen Oberkörper nach oben streckte.

      An der Bar arbeitete Simones langjährige Lebensgefährtin Lotta Kardinal, die gerade den Kühlschrank mit Champagner auffüllte und mit einem Hüftstoß die Tür schwungvoll zuknallte. In einer Stunde würde der Club öffnen, und sie hatte noch einiges vorzubereiten.

      „Ich geh nach oben und mache die restlichen Zimmer fertig. Soll ich euch noch eine Flasche Champagner aufmachen? Bin nämlich dann erst mal für eine Weile weg“, fragte Lotta.

      „Wir können noch etwas vertragen oder was meinst du?“ Während Simone sprach, drehte sie sich zu ihrem Freier und strahlte ihn an. Sie war geschäftstüchtig, denn für jede georderte Flasche erhielt sie eine beachtliche Provision.

      Er nickte, und Lotta stellte eine hochpreisige Flasche Champagner in einem Eiskühler auf den Tresen. Dann verließ sie die Bar.

      Simone betrachtete ihren