Szene einzudringen und aufzusteigen, um über die wichtigen Schaltzentralen geplante Attentate aufzuspüren. Ihre tunesischstämmige Mutter hatte mit ihr als Kind nur Arabisch gesprochen, was ihr ermöglichte, einen Fuß in das Tor der islamistischen Welt zu setzen und das Vertrauen eines entscheidenden Wissensträgers zu gewinnen.
Vor wenigen Minuten hatte sie das Treffen mit ihm in der Gökhan-Moschee beendet, die, eingefriedet von einer niedrigen grauen Betonmauer, hinter der wild und ungeordnet immergrüne Sträucher wuchsen, welche einen idealen Sichtschutz boten, als beliebter Treffpunkt für den islamistischen Austausch genutzt wurde. Die Betonmauer mit dem überdimensionierten Strauchbewuchs wirkte wie eine Aneinanderreihung von lang gestreckten Blumenkästen, die für die hochgewachsenen Pflanzen viel zu klein geraten waren.
Nora verließ das Moscheegelände, nahm ihr Handy in die Hand und tippte Sieberts Nummer auswendig auf das Display, während der Imam erschien, mit dem sie sich vor wenigen Minuten getroffen hatte.
Sie sprach beiläufig in ihr Handy: „Kontaktperson verlässt die Moschee und wird sich jetzt auf dem Weihnachtsmarkt mit einem Ahmed treffen!“
„Jetzt?“
„Ja, jetzt sofort.“
„Scheiße, die Observationstruppe steht noch nicht!“
Stille. Angestrengt überlegte Siebert, was zu tun war.
„Nora, zieh dich trotzdem zurück, mit Glück kriegen wir es hin!“
„Nein, das mach ich nicht. Zu riskant, so lange zu warten. Wir verpassen ihn sonst. Ich folge ihm bis zum Weihnachtsmarkt und übergebe dort an euch.“
Noras Stimme zitterte, ohne dass sie ahnte, aus welchem Grund sie ihr wegzubrechen drohte. Selbst wenn ihr in diesem Moment jemand zugeflüstert hätte, dass in wenigen Minuten ein nie da gewesener, zu einer tödlichen Wende in ihrem Leben führender Kontrollverlust über sie hereinbrechen würde, hätte sie ihren Einsatz zu Ende gebracht. Für Nora war es nie eine Frage, für welchen Weg sie sich bei einer Gabelung entscheiden würde. Es war immer der regelkonforme Pfad, den sie ihr gesamtes Leben beschritten hatte und bis zum Ende gegangen war und der ihr die tiefe Gewissheit verschaffte, das Richtige zu tun. Dass sie einmal über geplante gemeingefährliche Gesetzesbrüche unendliche Dankbarkeit empfinden könnte, war in der gesetzestreuen Welt, in der sie lebte, unvorstellbar.
„Nora, auf keinen Fall wirst du ihn verfolgen! Gib die Beschreibung durch. Vielleicht können wir ihn mit einer kleineren Einheit finden und aufnehmen!“, befahl ihr die Stimme am anderen Ende.
Als ihr jetziger Einsatzleiter und VE*-Führer(*VE = Verdeckter Ermittler) Max Siebert ihr vor sechs Jahren die Verwendung als verdeckte Ermittlerin näherzubringen versucht hatte, war sie zunächst skeptisch gewesen, denn sie war mit ihrem Job in Hamburg zufrieden – wie man so sagt. Die überraschende Offenbarung ihres damaligen Freundes jedoch, unter keinen Umständen in Beziehungslangeweile erstarren zu wollen und sie nicht mehr zu lieben, bildete eine Zäsur in ihrem Leben und gab den entscheidenden Impuls, nach München zu ziehen, um als neugeborener Single das Leben einer anderen zu leben. Ihr Freund hatte noch beiläufig mitgeteilt, schon länger eine neue Partnerin zu haben und lange nicht mehr so glücklich gewesen zu sein. Dabei hatte er seinen Kopf geneigt und sie mitfühlend angeschaut. Das war es. Vorbei. Nora hatte es damals noch verwirrt, dass er geweint hatte, was ihr naheging und Hoffnung in ihr aufkeimen ließ. Erst später verstand sie, dass er nur um seiner selbst willen getrauert hatte. Als ihr Freund sie zum Abschied gütig in den Arm nehmen wollte, wies sie ihn zurück. Ein Wiedersehen gab es nicht mehr. Nora sprang kopfüber in ein polizeilich überwachtes Abenteuer.
In München hatte sie sich schnell eingelebt und erkannte in der Veränderung auch den Vorteil, ihre in der Nähe von München lebende Mutter und ihren urbayrischen Vater häufiger sehen zu können, die ihr bei einem der ersten Besuche Isa geschenkt hatten, ein entzückendes schwarzes Hundewelpenknäuel.
Entgegen aller Regeln verfolgte Nora den Imam. Auf keinen Fall wollte sie es darauf ankommen lassen, ob Siebert seine Leute zusammenbekam. Keiner hatte diesen Ahmed bisher zu Gesicht bekommen. Das Risiko einzugehen, dass er außer Kontrolle geriet, war keine Option. Sie musste handeln. In einem geschützten, unbeobachteten Bereich entledigte sich Nora eilig ihres Tschadors und stopfte den Ganzkörperschleier in ihren handlichen Rucksack, während sie die Kontaktperson zu Fuß verfolgte. Ihr Handy hielt sie dabei in der Hand und hörte, wie Siebert von ferne fluchte.
Bevor sie den an diesem Abend mit all seinen Bretterbuden im warmen Licht erstrahlenden Christkindlmarkt sehen konnte, stieg ihr bereits der Duft nach gebrannten Mandeln, Glühwein und Zimt in die Nase. Trotz der frostigen Winterzeit wurde Nora während der Verfolgung heiß.
Dichte Menschenmassen in Weihnachtsstimmung bevölkerten den Markt und wärmten ihre Hände an den heißen Punschbechern, während in dem Fahrgeschäft an der Ecke der besonders beliebte Feuerwehrwagen, das Polizeiauto und die in Rosa lackierte Feenkutsche mit ihren kleinen Fahrgästen im Kreis getrieben wurden. Nora stieß während ihrer Verfolgung gegen unbekannte Schultern und schob sich durch die sich amüsierende Menschenmenge, während die wohlbekannten Angstwellen durch ihren Bauch tobten und die Panikattacke übermächtig wurde. Sie hyperventilierte, und die Musik um sie herum wurde dumpf.
Immer mehr fürchtete sie sich vor Menschenansammlungen. Immer häufiger musste sie bei diesen Beklemmungen ihre Zahlen und Verse aufsagen. Immer verzweifelter versuchte sie, diese sinnlosen Gedanken und die tiefe Furcht mit ausgedachten Versen zu vertreiben und zu neutralisieren. Gerade jagte wieder so ein Scheißgedanke durch ihren Kopf. Sie stellte sich vor, wie ihre Labradorhündin Isa auf ihrer Hundedecke selig schlief. Oh Gott, was, wenn ein Einbrecher kommt? Was ist mit Isa? Was wird er tun? Sie wird bellen. Er hat eine Waffe! Was wäre wenn ...
Die Zwangsgedanken entwickelten sich übermächtig zu einem Hemmnis und verlangsamten Noras Schritt. Der Abstand zwischen ihr und der Zielperson wurde größer, aber noch konnte sie sie sehen.
„Nora, wo bist du? Gib deine Standortdaten durch. Ich habe eine einsatzbereite kleine Einheit um den Christkindlmarkt aufstellen können. Wir übernehmen jetzt.“
Schweigen am anderen Ende des Handys.
„Ey, antworte doch ...! Verdammt, du gefährdest den Einsatz!“
Nora war in ihrer dunklen Welt angekommen und begann, die sie beruhigenden Verse leise vor sich hin zu murmeln:
„Aller guten Dinge sind drei,
sagten drei kleine Dreikäsehoch
und kauften drei Brote,
Schwarzbrot, Graubrot, Weißbrot,
bevor sie sich dreimal bekreuzigten.“
Sie bekreuzigte sich dreimal.
Jetzt muss ich nur noch dreimal bis dreißig zählen, und dann wird alles gut, dachte sie. Alles wird gut. Alles wird gut. Aber sie wurde durch die Stimme aus ihrem Handy unterbrochen.
„Nora, du kommst sofort zu mir. Ich breche den Einsatz ab ... Scheiße, Mann!“
In ihrem tragischen Drang, das Ritual zu Ende bringen zu müssen, drückte sie auf den roten Hörer ihres Displays und beendete den Kontakt zu Siebert.
Sie begann von Neuem und konnte endlich ungestört ihren zwanghaften Vers zu Ende bringen. Das war jetzt alles, was zählte. Nora wiederholte den Reim wie ein Mantra und zählte im Anschluss dreimal bis dreißig und spürte, wie ihre Anspannung von ihr abließ und sie etwas ruhiger wurde. Sie fühlte sich besser, und die Angst wich von ihr. Die Zielperson hatte sie allerdings verloren. Sofort schoss erneut Adrenalin durch ihren Körper, und Verzweiflung ergriff Besitz von ihr. Sie hatte einen sehr wichtigen Einsatz, für den sie sechs Jahre operativ gearbeitet hatte, in nur wenigen Minuten vollständig zerstört. Erst hatte sie sich Sieberts Anweisung widersetzt, und nun hatte sie den Imam und damit auch Ahmed verloren. Ein riesenhafter Scheißärger rollte auf sie zu, das wusste sie.
Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern schickte sie sich an, den Christkindlmarkt zu verlassen, da stellte sich ihr unerwartet jemand in den Weg. Bedrohlich baute sich der Imam auf und feindete sie an.