wenn er sie am Grab am Friedhof Meidling besuchte.
Dies war nur eines seiner täglichen Rituale. Jakob Primm liebte fixe Gewohnheiten und versuchte, diese nicht zu brechen oder abzuändern. Er benötigte einen organisierten Ablauf und war jeden Abend selbstzufrieden, wieder einen ganzen Tag über die Runden gebracht zu haben, ohne davon abzuweichen. Und er liebte seine Einsamkeit.
Jeden Morgen machte er es sich auf seinem Sofa im Wohnzimmer mit einer Tasse Kaffee gemütlich, nahm die dumpfen Außengeräusche seiner Gegend wahr und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Ein Tag nach dem anderen begann identisch. Darauf legte er großen Wert. Kaffeekanne und Tasse stellte er stets am Vorabend bereit, wobei die Farbe des Behältnisses jeweils dem Wochentag entsprach. An diesem Mittwochmorgen genoss er das warme Bohnengetränk aus einem roten Porzellangeschirr. Der Farbton erinnerte ihn an ihre Fingernägel, die ihn immer wieder faszinierten, wenn er sie sah. Dieser Tag sollte herausragend werden.
Sein Morgenritual nahm zwanzig Minuten in Anspruch, in welchen er sich völlig in seiner Gedankenwelt verlor, wie in Trance kaum zu atmen glaubte und die Stille in seinem Kopf genoss. Gelegentlich glitten seine Augen dabei über ihre Gesichtszüge auf dem Gemälde, die so real schienen, dass er sich manches Mal einbildete, sie wäre als lebendes Wesen stets bei ihm.
Den Maler des Porträts, das er an jenem Tag in der Auslage entdeckt hatte, kannte er nicht. Auf dem rechten unteren Rand des Bildes waren die verblassten Initialen R.B. zu sehen, doch um wen es sich dabei handelte, war ihm unbekannt. Das Geheimnisvolle, das mit dem Antlitz dieser Frau in Verbindung stand, erregte ihn. So hielt er sich bewusst zurück, die Geschichte dahinter zu ergründen.
Schon beim Erwerb des Bildes war er versucht gewesen, den Händler darüber zu befragen und sich nach dem Maler zu erkundigen. Doch sowie er die Frage gedanklich formuliert und den Mund geöffnet hatte, um sie dem Verkäufer zu stellen, zog er sie zurück und klappte die Kiefer wieder zusammen. Man muss nicht alles wissen, rechtfertigte er sich selbst im Geiste nach seinem abrupten Meinungswechsel. An jenen Tag erinnerte er sich genau zurück. Es war 13 Jahre her, dass er ein neues Gemälde sein Eigen nannte.
Jakob Primm hatte eine gewisse Kunstaffinität, jedoch beschränkte sich die darauf, Bilder zu erwerben und dafür an den Wänden seiner Wohnung den passenden Platz zu suchen. Am Tag, als er das Porträt entdeckte, waren in allen Räumen genügend Gemälde vorhanden. Der Tag, an dem er eines von ihnen abnahm und stattdessen das Frauenporträt aufhängte, ging in die Geschichte ein.
Ihre rote Bluse sah aus, als wäre sie aus Seide, und schmiegte sich an ihren unterhalb der Brust abgeschnittenen Oberkörper. Die schwarzen ovalen Knöpfe verliefen entlang der Mitte und hielten den Stoff zusammen, der über ihrem wohlgeformten Busen leicht spannte. Der Kragen enthüllte einen Teil ihres langen, endlos wirkenden Halses. Ihr Mund, im selben Ton, war zu einem geheimnisvollen Lächeln verzogen, so, als wüsste sie etwas, das sie dem Maler nicht zu verraten beabsichtigte. Ihre Lippen glänzten – manchmal sogar mehr als sonst – an diesem Tag außerordentlich intensiv. Ihre Nase wirkte unscheinbar, so als wäre sie gar nicht vorhanden. Ein gutes Zeichen. Sie fiel nicht auf, sondern betonte vielmehr das restliche Gesicht – vor allem Augen und Lippen. Ihr Blick war warm und stechend zugleich. Er hatte sowohl etwas Anziehendes als auch etwas Erniedrigendes an sich. Ein Bild an der Wand schaffte es, ihn in ohnmächtigen Momenten in die Knie zu zwingen. „Ich gehöre dir“, hörte er sich in solchen Augenblicken flüstern.
Das dunkle Braun ihrer Augen sah ihn an und verfolgte ihn, wohin auch immer er sich bewegte. Das Gesicht war umgeben von perfekt geformten, schimmernden Locken, die nicht nur vom Kopf herunterfielen, sondern es umrahmten und ihm eine vollkommene Harmonie und manchmal gespenstische Lebendigkeit verliehen. Er war verleitet, seine Finger durch ihr Haar gleiten zu lassen, als er das Bild an der Wand zwischen Esstisch und Fernsehgerät montierte. Es würde dort für immer hängen. Es erinnerte ihn an sie – jedes Mal, wenn er das Porträt ansah.
Jakob Primm war Einzelgänger. Er zog es vor, nicht zu kommunizieren und nur dann etwas zu sagen, wenn er das Bedürfnis danach verspürte. Er verabscheute den Small Talk und konnte mit leeren Phrasen nichts anfangen. Er besaß kein Mobiltelefon, weil er es unnötig fand, jederzeit erreichbar zu sein – aber auch da es fast niemanden in seinem Leben gab, den er hätte anrufen können. Seine Mutter war vor einiger Zeit verstorben, wobei er sogar imstande war, auf den Tag genau zu sagen, wann er sie verloren hatte. Ihr Tod jährte sich heuer zum 13. Mal. War er glücklich darüber, dass er die Wohnung seither alleine bewohnte, oder vermisste er sie? Das Gefühl, das er empfand, lag dazwischen, auch dann, wenn er in seinem ritualisierten Alltag ihr Grab aufsuchte. Alles, was er nicht zu machen imstande gewesen war, weil seine Mutter es missachtete, unternahm er nun. Es stand ihm frei, seinen Wohnraum zu gestalten, wie er es für richtig hielt. Er durfte sich an seinen von ihm geplanten Tagesablauf halten, und niemand redete dazwischen. Er genoss es.
Er vermisste sie.
Die Tasse in seiner Hand leuchtete an jenem Morgen intensiver als sonst. Lag das an dem Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Vorhänge bahnte? Es war nicht zu leugnen, dass er eine gewisse Aufregung verspürte – und er wusste genau warum.
Der Weg zum Grab seiner Mutter bot ihm ausreichend Gelegenheit, darüber nachzudenken, was ihn an jenem Abend erwarten würde. Seine Uhr zeigte 07:37, was bedeutete, dass er ausnehmend früh dran war. Wie war es möglich, dass er sich heute acht Minuten eher fortbegab, obwohl er keinen Programmpunkt gestrichen hatte?
Etwas trieb ihn hinaus. Die kühle, herb duftende Luft ließ trotz wolkenlosem Himmel und Sonnenschein herbstliche Stimmung aufkommen. In Situationen wie diesen kam ihm unweigerlich seine Mutter in den Kopf, die bei so einem Wetter am liebsten den ganzen Tag im Freien verbracht hätte. Er war von ihr jedes Mal regelrecht dazu gezwungen worden, sie zu begleiten. Obwohl ihm das stets missfallen hatte, sehnte er sich doch danach.
Auf dem Fußweg zum Friedhof, der normalerweise 36 Minuten in Anspruch nahm, kamen ihm ein Mann und ein kleiner Bub, offensichtlich Vater und Sohn, entgegen. Der Junge fragte seinen Vater, wer der Fremde sei. „Ein älterer Herr“, entgegnete dieser. Beim aneinander Vorbeigehen grüßten ihn die beiden, während er nur zu Boden sah. Er war davon überzeugt, Leute erfuhren mehr über ihn, wenn er Blickkontakt aufbaute, dabei hatte er vor, seine Gedanken keinesfalls preiszugeben. Niemand durfte je mehr über sein Wesen oder seine Geschichte erfahren.
„Warum grüßt der Mann nicht?“, hörte er das Kind fragen und freute sich stillschweigend darüber, einen geheimnisvollen Eindruck hinterlassen zu haben.
Nach seinem morgendlichen Ritual am Grab, seinen pingeligen Aufräumarbeiten, auch wenn kein Durcheinander entstanden war, und den stillen Gebeten und Gesprächen mit seiner Mutter setzte er zum Weg zurück nach Hause an. Er freute sich auf das Porträt und nahm sich vor, an diesem Tag etwas mehr Zeit mit ihm zu verbringen als sonst.
Um 09:38 Uhr traf er daheim ein und wurde im Schlafzimmer daran erinnert, dass seine Bettdecke gebügelt werden musste. Jeden dritten Tag zog er den Überzug ab, um ihn zu glätten. Er hasste Falten und bügelte stets so lange, bis er keine einzige mehr entdeckte. Für drei weitere Tage konnte er nun in seinem Bett verbleiben. Im Anschluss wurde er gewaschen. Seine Mutter hatte ihm das beigebracht. Auch bei ihr hatte alles seinen Rhythmus gehabt und war genau geplant gewesen. Ihm war damals nichts anderes übrig geblieben, als sich ihren strikten Abläufen zu beugen. Er war sich dessen bewusst, wie viel er ihr – neben einer weiteren wichtigen Frau in seinem Leben – zu verdanken hatte. Hätte er akribische Lektionen wie jene nicht gelernt, wäre er womöglich schon erwischt worden.
Es handelte sich um eine kleine, schmächtige Frau, die sich zeit seines Lebens um ihn herum aufgehalten hatte. Sie war Mutter von Beruf und änderte dies auch nicht, als sich seine runden Geburtstage wiederholten und seine Haare langsam grau wurden, was so unauffällig geschah, dass es perfekt zum Gesamterscheinungsbild des Jakob Primm passte. Sie war da. In der Früh, zu Mittag, am Abend, in der Nacht. Vor der Arbeit, in der Mittagspause, nach der Arbeit. Bei Regen, bei Sonne, bei Schnee, bei Eiseskälte. Er erinnerte sich nicht daran, sie einmal nicht im Hause und später in der Wohnung gespürt zu haben. Die große Menge an Energie, die sie in dieser Zeit hinterlassen hatte, erfüllte auch jetzt alle Räume, Türen, Wände, Einrichtung, Gegenstände. Manchmal rechnete er jeden Moment damit, sie