Sabine Wolfgang

Wort für Mord


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bemühte, diesen grässlichen Begriff lieber nicht in den Mund zu nehmen. Wann immer Peter das Buch so nannte, zog sich alles in ihr zusammen, als hätte ihr jemand in den Magen getreten. Obwohl damals eine Lesetour und unzählige Marketingaktivitäten – genau wie die vielen Male zuvor – unternommen wurden, stockte der Verkauf aus unerklärlichen Gründen, wofür nicht einmal die Verlagsleitung eine Erklärung fand.

      Paula hatte gehofft, dass man verlagsintern darüber hinwegsah, doch diesen großen Misserfolg ignorierte niemand, auch wenn sie es noch so sehr wollten. Und dann kam sie. Die unfassbare Entscheidung, den Vertrag mit ihrem einstigen Zugpferd nicht zu verlängern. Der zwölfte Roman war zu jener Zeit im Entstehen, und auch für einen 13. und 14. war bereits ein Vertrag abgeschlossen worden, doch danach war Schluss. Obwohl ihr von einem auf das andere Mal klar wurde, dass ihre Karriere als Schriftstellerin jederzeit zu Ende gehen konnte, war die endgültige Entscheidung des Verlags für sie damals schwerer zu ertragen gewesen als erwartet. Tagelang hatte sie sich zu Hause verkrochen, in einer Art Schockstarre, die eine schier unerträgliche Zukunftsperspektive mit sich brachte. Was würde Paula anstellen, wenn sie keine Romane mehr schrieb? Oder würde sich ein neuer Verlag ihrer erbarmen und sie unter ihre Fittiche nehmen? Befanden sich ihre Buchverkäufe am absteigenden Ast, stand es auch um andere Kooperationen schlecht. Frank hatte damals immer wieder versucht, ihr gut zuzureden, und ihr geraten, sich darauf zu konzentrieren, was sie schon geschaffen hatte. Wie viele andere Autoren brachten im Vergleich zu ihr so eine Vielzahl erfolgreicher Werke zu Papier? Er hatte zwar recht, dennoch war es für sie so, als würde man sie ihrer Talente berauben und ihr die Existenzgrundlage nehmen.

      Trotz ihres unangenehmen Gefühls zwang sich Paula dazu, die ersten Worte zu Papier zu bringen, als schlagartig laute Musik durch ihre Wohnzimmerfenster drang. „Kann man hier nicht einmal in Ruhe arbeiten?“, brüllte sie, woraufhin der Lärm abrupt verstummte. Womöglich wieder einer der Nachbarn, der annahm, alleine auf der Welt zu sein.

      War es das schwüle Wetter, das ihr derart Kopfschmerzen bereitete? Sich auf die Geschichte zu konzentrieren, fiel ihr schwerer als je zuvor. Die Gedanken in ihrem Kopf ergaben jählings keinen Sinn mehr. Wer ermordete wen? Welches Motiv gab es? Hatte sie sich schon auf eine Tatwaffe festgelegt? Wo spielte sich alles ab? Was genau forderte Peter Biber in der Besprechung?

      Schweiß perlte über ihre Haut und vermischte sich auf den Wangen mit aus den Augen quellenden Verzweiflungstränen zu dicken Tropfen, die aus ihrem Gesicht fielen und vereinzelt auf der Tastatur ihres Laptops landeten. War sie nicht mehr in der Lage, sich auf ein banales Konzept zu konzentrieren? Niemand verlangte von ihr, in den kommenden Tagen oder Wochen bereits ein fertiges Manuskript abzuliefern, sondern bloß ein mehrseitiges Exposé.

      Instinktiv wurde ihr bewusst, dass nun ebendies eintrat, was bereits in den letzten Wochen ihre zweitgrößte Befürchtung gewesen war, die sich unmittelbar an ihre größte – das Fortschreiten der Krankheit – reihte. Immer wieder schossen ihr inmitten der Nacht jene Gedanken in den Kopf, die sie aufschrecken und stundenlang wach liegen ließen. Und dabei ging es nicht mehr nur um das Verfassen eines banalen Konzepts, sondern um den gesamten Roman, den sie vertraglich vereinbart hatte. Mit einer vorübergehenden Schreibblockade konnte sie umgehen. Aus Erfahrung wusste sie, dass man jener Platz gewähren sollte und gezwungen war, eine Pause einzulegen, bis es, wenn man sie erst einmal überstanden hatte, besser als zuvor weiterging. Doch dieses überwältigende Gefühl, das sie nun plagte, war mächtiger. Es bescherte ihr eine Unfähigkeit, gleich einem Blackout, die sich langanhaltender anfühlte. Außerdem schuldete sie es sich selbst, sich nun in vollem Umfang ihrer Gesundheit zu widmen und allen Behandlungen, die auf sie warteten, und Ruhephasen, die sie brauchte, Raum zu gewähren.

      Paula Hogitsch war am Ende ihrer Karriere. Doch leider nicht nach dem 14. Werk, sondern davor.

      Am nächsten Tag machte sich Paula auf den Weg. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie unter Zwang stand, mit Peter klar Schiff zu machen. Ohne sich anzukündigen, setzte sie sich in ihr Auto und fuhr nach Wien Hütteldorf, wo sie ihr Fahrzeug abstellte und die U4 bis Pilgramgasse bestieg. Gesundheitlich fühlte sie sich besser als am Tag davor, was sie zur Annahme brachte, die lange Fahrt hin und retour problemlos auf sich nehmen zu können. Vorsichtshalber führte sie den Schlüssel für ihre Wiener Wohnung mit, sollte sie nicht mehr in der Lage sein, die Rückreise am Nachmittag anzutreten.

      In der U-Bahn beobachtete sie die Menschen, die ein- und ausstiegen, in Gedanken versunken und geistig bei einer Besprechung, dem Feierabend oder der Familie waren. Sie liebte es, ihr Gegenüber und andere Umstehende genau zu mustern, Stimmungen zu erfassen und sich Geschichten zu den Gesichtern zusammenzureimen. Dazwischen gab es die eine oder andere Person, die ihrerseits Paula länger musterte und sie als Schriftstellerin entlarvte. Ab und an war es bis dato passiert, dass man sie ansprach und um ein Autogramm bat oder ihr unaufgefordert Kommentare zu ihren Werken mit auf den Weg gab.

      Von der U-Bahn-Station der Pilgramgasse nahm sie das letzte Stück zu Fuß zum Verlagssitz, der sich seit jeher in der Lindengasse im 7. Bezirk, dem Kreativzentrum der Stadt, befand. Paula liebte die Gegend und hatte jahrelang überlegt, ihre Wohnung in Margareten zu verkaufen und sich stattdessen als Zweitwohnsitz in Wien Neubau niederzulassen. Die Preise, die man in der Hauptstadt mittlerweile für Immobilien bezahlte, hielten sie hingegen davon ab.

      Immer wenn Paula in der Stadt unterwegs war, inhalierte sie die Atmosphäre, als verweilte ein Großstädter am Land, der zum ersten Mal wieder den betörenden Geruch von Wald, Wiese und Tieren wahrnahm. Obwohl sie das besinnliche Landleben liebte, wie sie es mit ihrer Familie führte, vermisste sie die kreative Luft, die durch die Gassen wehte, die zahlreichen Möglichkeiten, die die Stadt zur Unterhaltung bot, sowie die charmante Grantigkeit, die einen unabdingbaren Teil des Wiener Kosmos darstellte.

      Kurz kam ihr der Einfall, in jener Umgebung derzeit kreativer sein zu können als auf dem Land, verwarf ihn jedoch wieder, als ihr der bloße Gedanke an das Konzept einen imaginären Schlag in die Magengrube bescherte. Zügig überquerte sie die Mariahilfer Straße, ohne dieses Mal im Thalia auf Bücher-Beutefang zu gehen. Obwohl es für sie üblicherweise zu einem Wien-Besuch dazugehörte, sich zumindest für eine Stunde der Literatur in ihrer Lieblingsbuchhandlung, wo damals alles begonnen hatte, zu verlieren, setzte sie ihren Weg zum Verlag unbeirrt fort und verzichtete auf eine fantasievolle Pause.

      „Peter, ich …“

      „Paula! Schön, dass Sie persönlich vorbeikommen. Sie wollen mir das Konzept unbedingt direkt übergeben, nicht? Gut so. Ich würde da ohnehin gerne noch etwas mit Ihnen besprechen. Denken Sie, es ist geschickt, wenn der Mörder ein Jungspund ist, oder soll er doch lieber schon etwas gesetzter sein? Christopher meint, ein älterer Übeltäter wäre vielleicht besser, aber ich bin mir da nicht sicher. Einen ganz jungen Mörder hatten wir noch nie …“

      „Peter!“ Paula unterbrach seinen Redeschwall. Das war typisch für den Verlagsleiter, der nur das hörte, was ihm auch zusagte.

      „Oh. Entschuldigen Sie. Sie wollten etwas sagen. Also, jung oder alt?“

      Nie schaffte er es, seine Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen und sich nur auf sein Gegenüber und dessen Anliegen zu konzentrieren.

      „Weder noch. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich es nicht fertigbringe.“

      „Was? Einen jungen Mörder zum Leben erwecken? Aber Paula!“

      „Peter, bitte! Hören Sie mir einfach zu. Es ist wichtig, dass Sie mich jetzt reden lassen.“ Endlich hatte Paula seine Aufmerksamkeit. Peter wurde leicht rot und versuchte, sich seine Verärgerung über die Ablenkung nicht anmerken zu lassen.

      „Ich habe mir das überlegt. Ich schaffe es einfach nicht. Es ist an der Zeit, mich endlich auf meine Familie zu konzentrieren und das Schreiben ad acta zu legen. Ich habe einfach nicht mehr die Muße dazu.“

      Paula war völlig klar, dass ihre Worte in Peters Ohren keinen Sinn ergaben. Nach ihrem letzten Werk konnte sie all das, was sie nun aufzählte, bis an ihr Lebensende machen und sich Tag und Nacht mit ihrer Familie beschäftigen. Außerdem hatte sie bis dato noch nie damit zu kämpfen gehabt, einer Aufgabe nicht gerecht zu werden oder unter Schreibblockaden zu leiden. Sie merkte, dass sie ihn nicht mit einer Lächerlichkeit wie jener abspeisen konnte,