war Beobachter. Bevor er mit jemandem ins Gespräch kam, musste er das Gefühl haben, die Person ein wenig zu kennen. Er observierte sie so lange, bis er meinte, zumindest ein bisschen was über sie zu wissen. Er hasste es, wenn man frontal auf ihn zuging und ihn einfach ansprach. Aktionen wie diese brachten ihn aus dem Konzept und konnten nie eine ähnlich qualitätsvolle Konversation zur Folge haben wie jene mit von ihm zuvor beobachteten Menschen.
Als er seinen Laptop einschaltete, schossen ihm in Gestalt eines pawlowschen Reflexes die Worte seiner Mutter durch den Kopf: „Mit deiner Schreiberei wirst du nie genug verdienen.“ Dabei hatte sie stets ihre Augen zusammengekniffen, als wäre ihre Aussage eine Drohung, die sie, wenn er nicht spurte, wahr werden ließ. Sie war nicht in der Lage gewesen zu verstehen, wie man ein Hobby zum Beruf machen konnte. Allerdings hatte sie auch nie verlangt, dass ihr Sohn aufgab, nur erwartet, es ausschließlich als netten Zeitvertreib zu betrachten. Menschen, die richtiges Geld damit machten, waren in ihren Augen „anders“. Anders als er? Wie musste man als erfolgreicher Schriftsteller denn sein? Brachte man Texte schneller zu Papier? Hatte man genialere Eingebungen? Bekam man bessere Aufträge? War man ein Typ Mensch, aus dem sich eine Art Marke aufbauen ließ, und dafür geeignet, zu sämtlichen Themen, die das Land bewegten, etwas zu sagen zu haben? Oder ging es ihr darum, dass sie ihrem Sohn das Künstlerdasein nicht zutraute, weil sie sich mit ihm verglich und ihm des Öfteren ihre eigenen Schwächen und Unfähigkeiten vorhielt? Steckte in ihr auch etwas, das zeit ihres Lebens herauswollte, ohne von ihrem Umfeld akzeptiert worden zu sein? Menschen, die nie machten, was ihnen am Herzen lag, bestraften gerne unbewusst ihre eigenen Kinder, sobald diese ihre Träume auszuleben versuchten. Doch was zum Teufel konnte er dafür, dass sie kein selbstbestimmtes Leben geführt hatte?
Manchmal wünschte er sich ein Umfeld herbei, das eine weniger typisch österreichische Ansicht vertrat und außergewöhnliche Begierden und Ideen unterstützte, anstatt sie schlicht im Keim zu ersticken. Wann immer er zu Besuch bei Freunden in den USA war, schwappte ihm eine Motivation, seine Träume zu verwirklichen, entgegen, die er gierig aufsaugte wie ein Schwamm das Wasser. Nach jeder Rückkehr aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten gelang es ihm, Wochen davon zu zehren und in den Steinen, die ihm in den Weg gelegt wurden, zu bewältigende Herausforderungen zu erkennen. Doch irgendwann ebbte diese Begeisterung wieder ab, und er war im heimischen Alltag angekommen, der entmutigende Floskeln und eine zweifelnde Umgebung nach sich zog. Nicht nur einmal spielte er mit dem Gedanken, der Heimat den Rücken zuzukehren und sein Glück woanders zu versuchen. Was allerdings brachte es ihm auf seinem Lebensweg, Autor zu werden, der an eine Sprache und daran verknüpft an einen Buchmarkt gebunden war, wenn er in einem anderen Land weilte? Früher oder später wäre er, selbst wenn er von woanders aus schrieb und seiner Kreativität Raum zur Entfaltung bot, doch wieder gezwungen, sich mit denselben, nicht aufgeschlossenen Leuten abzugeben.
Tobias Gielding arbeitete als Auftragsschreiber, als Ghostwriter. Er formulierte, was andere nicht zu Papier bringen konnten. Schrieb er deswegen im Namen von Fremden, weil er selber über keinen Bekanntheitsgrad verfügte? Und obwohl ihn ab und an eine Zusage erreichte, plagten ihn aufgrund der schwer unterbezahlten Aufträge seit Jahren Zweifel darüber, wie lange er sich diesen Luxus würde leisten können.
Zwischen den mäßig erfolgreichen Projekten, die er stets fristgerecht ablieferte, ohne frenetischen Beifall dafür zu kassieren, bastelte er beharrlich an seinen eigenen Geschichten, die er eines Tages einem Verlag anzubieten plante. Viel zu voreilig hatte er vor mittlerweile zehn Jahren sein Glück auf die Probe gestellt und einen Vertragspartner für seinen ersten Krimi gesucht. Ab und an flatterte immer noch eine inhaltslose Absage herein, die sich weder genauer auf sein Werk noch auf den Grund für die Ablehnung bezog. Mehr als ein Standardschreiben war er nicht wert, und das schien schon das höchste Maß an Aufmerksamkeit zu sein, das man ihm angedeihen ließ.
Erst jetzt fand er Klarheit darüber, dass es damals zu früh für diese Initiative gewesen war. Sein Schreibstil hatte sich in den letzten Jahren radikal weiterentwickelt – sonst hätte er es bis dato nicht geschafft, seine Kunden zufriedenzustellen. Dennoch fehlte ihm seiner Meinung nach das gewisse Etwas, das zugegebenermaßen einen Autor ausmachte. Hin und wieder nahm er sich frühere schriftstellerische Ergüsse zur Hand, die in den Untiefen seiner digitalen Ablage verschwunden waren. Seine Reaktion reichte von erstaunter Begeisterung bis hin zu entsetzter Scham. Teilweise war ihm tatsächlich entfallen, was er alles kreiert hatte – von Kurzgeschichten über Drehbücher oder Krimis, jedoch allesamt unvollständig, unausgereift und nicht bis zum Ende in jedes verwinkelte Detail durchdacht. Manches überraschte ihn positiv, und er war der Meinung, dass er es gegenwärtig nicht mehr ähnlich gelungen hinbekommen würde. Mittlerweile hatte sich eine Enttäuschung in ihm ausgebreitet, die ihn regelmäßig alles hinterfragen ließ. Was war mit der Theorie, dass man Dinge, die man gerne tat, auch gut machte? Wann würde sich seine Beharrlichkeit im Laufe all der düsteren Phasen endlich rentieren und er seine Selbstzweifel beseitigen können?
Während sein Laptop in die Gänge kam, wurde er sich seiner Mittelmäßigkeit bewusst. Wieder einmal. Dennoch konnte er sich nichts anderes vorstellen und würde seine Zweifler und sich selbst schon eines Besseren belehren. Er war 33 Jahre alt und hatte sich vorgenommen, noch vor seinem auf ihn zurasenden halbrunden Geburtstag einen Bestseller für einen bekannten Autor zu schreiben. Kam dann ans Tageslicht, beispielsweise durch die Indiskretion seitens eines Verlagsmitarbeiters, dass er hinter dem Erfolg stand, konnte der Weg zu seiner eigenen Story nicht mehr so weit sein wie davor.
Der Begriff Bestseller war, nach dem zu urteilen, was er alles schon aus der Buchszene vernommen hatte, ohnehin Interpretationssache. Manche bedienten sich der Definition, wenn von einem Buch mehr als 100.000 Exemplare verkauft wurden. Andere teilten die Ansicht, es ginge um einen überdurchschnittlich hohen Verkauf innerhalb eines festgesetzten Zeitraums im Vergleich zu den weiteren Titeln, die am Markt waren. Wieder andere richteten sich nach den Bestseller-Listen diverser Tageszeitungen oder Magazine, die weiß Gott wo ihre Zahlen bezogen. Für ihn ging es mehr darum, endlich selber mit seiner Leistung zufrieden zu sein. Womöglich brauchte er seine eigene Definition dafür. Momentan war er weit davon entfernt.
Schon seit Tagen wartete er auf eine positive Antwort des Verlags. Die auf seine ungeduldige Rückfrage hin eintreffende Nachricht, die Prüfung der Angelegenheit dauere eben ihre Zeit, stellte ihn langsam nicht mehr zufrieden. Er brauchte diesen Auftrag. Der Vorwurf in Lilos Augen war nicht länger auszuhalten. Täglich wuchs er zu etwas Unerträglichem heran.
„Wenn das nichts wird, musst du dir einen Job suchen. Ich kann langsam nicht mehr alleine für alle Kosten aufkommen“, lauteten ihre Worte. Sie war im Recht, und das wusste sie. In den letzten Jahren hatte sie so viel akzeptiert – seine häufige geistige Abwesenheit, kombiniert mit einem niedrigen Lebensstandard –, dass er ihr das schuldete. Fiel die Antwort des Verlags negativ aus, wurde er dadurch zum Handeln gezwungen und würde sich vorübergehend anderweitig Geld beschaffen müssen. Er hasste diesen Gedanken. Er war Schriftsteller. Warum gab man ihm keine Chance?
Nicht nur einmal hatte man ihm einen großen und anständig bezahlten Auftrag in Aussicht gestellt, der ihm außer Zeitaufwand und Unmengen an Hoffnung seinerseits nichts weiter gebracht hatte. Die Zuversicht, dass es das nächste Mal klappen würde, brachte ihn nicht voran, denn Folgeanfragen, die sich daraufhin realisierten, blieben aus. Einmal war sogar eine Anfrage für ein Theaterstück hereingekommen, aber anschließend im Sand verlaufen, nachdem er ein noch so faires Angebot gelegt und wiederholt nachgefragt hatte, ob schon eine Entscheidung getroffen worden war. Nicht einmal eine ablehnende Antwort hatte ihn erreicht. Als das Stück zwei Jahre später in einem kleinen Theater in seiner Nähe aufgeführt wurde, war ihm die Ankündigung dazu untergekommen und hatte ihn daran zurückerinnert. Weder eine Ab- noch eine Zusage zu erhalten, ärgerte ihn mehr als ein konkret formuliertes „Nein“, das wenigstens ein Ende seines stetigen Hoffens bedeutet hätte. Dann könnte er mit etwas abschließen, ohne länger eine Art unerledigte Aufgabe in seinem Hinterkopf umherschwirren zu haben.
Nach einer kurzen Pause, in welcher er den Computer keines Blickes gewürdigt hatte, zeigte sein Posteingang drei neue Nachrichten. Bevor er die Mails genauer inspizierte, wurde ihm klar, dass sich eine des Biber-&-Benson-Verlags darunter befand.
Es stimmte, Peter hatte geantwortet. Gewöhnlich rief er mit guten Neuigkeiten an und schrieb mit