deiner Mutter?«
Er kniff die Augen zusammen. »Worauf willst du hinaus?« Alwin Müller lief dunkelrot an.
»Zufällig kenne ich eine Mitarbeiterin aus dem Paulusheim, in dem deine Mutter zuletzt untergebracht war. Heike hat Sachen beobachtet, die dich nicht besonders toll dastehen lassen, Alwin. Einmal ist sie gerade noch rechtzeitig ins Zimmer gekommen, hat sie gesagt. Es hätte so ausgesehen, als ob du, na ja, du hättest deine Hände wohl gerade …«
»Und das willst du denen erzählen?«, schnitt er ihr barsch das Wort ab. »Was hat das mit deiner Freundin zu tun?«
»Was hat das damit zu tun, dass du mich in der Stadt beobachtet hast? Das kann ich genauso fragen. Bestimmt hast du wieder Katharina nachgestellt. Gib endlich auf, sie will nichts von dir.«
»Ich auch nichts von ihr.«
»Ja, ja, schon klar«, sagte sie spöttisch.
Er fuhr mit fast 70 Stundenkilometern über die Rheiner Landstraße und sie wies ihn darauf hin. »Das Knöllchen bezahlst du!«
Er drosselte die Geschwindigkeit. »Verdammt, bei diesen neuen Bestattungswagen merkst du nicht, wenn du zu schnell unterwegs bist.«
»Wenn wir gleich am Friedhof angekommen sind, kein Wort mehr, okay? Dirk hat seine Lauscher überall. Ich brauche nicht noch jemanden, der wirres Zeug erzählt.«
»Ich hätte sowieso nicht damit angefangen.«
»Du hast damit angefangen, Alwin«, sagte Angelina.
Den Rest der Fahrt schwiegen sie.
Alwin parkte das Fahrzeug direkt vor der Einfahrt des Krematoriums.
»Bleib sitzen, ich mach das schon«, sagte Angelina, nahm die Papiere aus dem Seitenfach und stieg aus.
Im Eingangsbereich kam ihr Dirk, der Leiter des Krematoriums, entgegen. »Hi, Angelina, wie geht’s, was habt ihr heute für mich?«
»Moin, Dirk! Eine junge Frau, sie sieht nicht mehr wirklich schön aus, wir haben uns alle Mühe gegeben, die Angehörigen wollten sie noch mal sehen, aber viel war nicht zu machen. Bereite die Ärztin auf ihren Anblick vor, wenn sie kommt, oder war sie schon da?«
»Eben weg, sie kommt erst morgen wieder. Ist es deine Freundin?«
Angelina schüttelte den Kopf. »Nee, die ist noch nicht freigegeben. Ich glaube auch nicht, dass die das über uns machen. Zumindest habe ich bisher nichts gehört. Die Leiche bei uns im Wagen ist ein Verkehrsopfer. Wir haben sie letzte Woche auf der A1 aufgesammelt. Die Angehörigen wünschen eine Trauerfeier mit Urne.«
Dirk nickte und nahm die Papiere entgegen. »Kann aber eine Weile dauern. Wir sind voll im Moment. In der Kühlhalle warten gut und gerne 40 Särge.«
»Können wir einen Kaffee haben? Alwin wartet im Wagen.«
»Alles klar, du weißt ja, wo die Maschine ist. Bedient euch ruhig. Ich bring dir schon mal den Sargwagen. Kommt ihr klar?«
»Ey, haben wir jemals Hilfe gebraucht?« Sie lachte.
Während sie den Kiefernsarg aus dem Bestattungsfahrzeug schoben, warf Angelina ihrem Kollegen einen stechenden Blick zu.
*
Durch ein halb geöffnetes Fenster drang Vogelzwitschern. Birthe versuchte, die Tragödie mit den Augen der Eltern zu sehen. Es war so ein herrlicher Frühlingstag, den Jessica nun nicht mehr erleben durfte. Keinen einzigen weiteren Tag. Ein junges Leben voll Hoffnung und Zukunft war ausgelöscht worden. Wie sollten die Eltern nur mit dieser endgültigen Gewissheit weiterleben! Der Schock würde noch kommen, manchmal erst bei der Beerdigung oder kurz danach. Davor gab es so viel zu tun, zu erledigen. Viele Angehörige machten erst einmal alle Schotten dicht, ließen keine Gefühle zu, konzentrierten sich aufs Wesentliche, funktionierten, weil sie funktionieren mussten. Erst danach begann die lange, dunkle Zeit der Trauer und der Verarbeitung.
Birthe verbot sich weitere Gedanken an die Eltern. Mitgefühl ja, Mitleid nein, hatten sie auf der Polizeiakademie gelernt. Sie musste lernen, sich viel mehr abzugrenzen.
»Früher kannte ich das nicht von Jessica. Noch vor wenigen Monaten hatte sie sich so sehr auf ihr neues Leben gefreut. Endlich hatte sie etwas gefunden, für das sie brannte. Sie wollte unbedingt in diese Band, sie wollte dazugehören, berühmt werden, aber das war natürlich nicht so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte«, sagte Elke Wagner leise.
»Wobei das überhaupt nicht unser Ding war«, ergänzte ihr Mann. »Wir hätten uns einen solideren Weg für Jessica gewünscht. Sie glauben nicht, wie oft ich bereut habe, ihr jahrelang diese teuren Klavierstunden bezahlt zu haben.«
»Und Gesangsunterricht«, ergänzte seine Frau.
»Gab es deswegen Konflikte?« Birthe musste diese Frage stellen, denn sie hoffte, dass die Eltern, solange die Emotionen noch frisch waren, unverfälscht Auskunft gaben, dass vielleicht Wahrheiten ans Licht kamen, die sich später nur mühsam ermitteln lassen würden.
Christian Wagner rang nach Worten. »Sie sollte etwas Vernünftiges aus ihrem Leben machen. Keinen Hirngespinsten nachhängen. Sie hat wohl Hobby mit Beruf verwechselt. Aber wie hätten wir ahnen sollen, dass sie plötzlich vorhatte, den Musikquatsch beruflich zu betreiben?«
»Wir haben vieles probiert«, fügte Elke Wagner hinzu. »Jessica hatte so viele Möglichkeiten und hat nichts daraus gemacht. Ins Baugeschäft einsteigen wollte sie nicht, obwohl wir sie immer wieder dazu ermuntert haben. Sie hatte keinerlei Interesse am Beruf meines Mannes. Den Unterricht an einer privaten Fachschule hat sie nach kurzer Zeit an den Nagel gehängt – sie hätte Heilpraktikerin werden können –, die Hotelfachschule in Hamburg hat sie ebenfalls nach sechs Monaten geschmissen. Es war nicht leicht mit ihr. Nichts genügte ihren Ansprüchen, nichts hat wirklich ihr Interesse geweckt. Wir haben schwere Zeiten mit Jessi hinter uns. Aber gerade wurde es wieder etwas besser. Und ausgerechnet jetzt musste sie gehen.«
Daniel lehnte sich vor. »War Jessica Ihr einziges Kind? Oder gibt es noch Geschwister?«, wollte er wissen.
»Jessica ist … Jessi war unser einziges Kind«, sagte Christian Wagner mit gebrochener Stimme. »Ich muss mich erst an die Vergangenheitsform gewöhnen.«
»Hat Jessica hier noch ein Zimmer?«
Die Eheleute nickten.
»Dürfen wir es sehen?«
Christian Wagner starrte den Kommissar an, als wunderte er sich über seine Frage. »Natürlich. Sie hatte einen eigenen Bereich. Eine ganze Etage. Wir hätten sie natürlich vermieten können, als sie ausgezogen war, aber das wollten wir nicht. Sie sollte wissen, dass sie hier ein Zuhause hatte und jederzeit willkommen war.« Christian Wagner erhob sich, um Birthe und Daniel den Wohnbereich seiner Tochter zu zeigen.
Dieser lag im Anbau des Hauses, zur Gartenseite hin, und war mindestens 90 Quadratmeter groß. Jessica hatte in ihrem Elternhaus eine komplette Wohnung für sich allein, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Ankleidezimmer, modernem Badezimmer und hochwertiger Einbauküche. Die Wohnung war genauso elegant und im gleichen Stil eingerichtet wie der Rest des Hauses.
»War dies schon länger Jessicas Reich, hat sie hier früher gelebt?«, fragte Daniel verblüfft.
»Ja, seit ihrem zwölften Lebensjahr«, antwortete Christian Wagner. »Vorher hatte sie zwei große Zimmer im Obergeschoss. Aber sie sollte in der Pubertät genug Entfaltungsmöglichkeiten haben. Oft kommt es ja zum Streit, weil sich die Kinder eingeengt und gegängelt fühlen, das wollten wir vermeiden. Sie sollte es gut haben.«
»Sie sollte sich wohlfühlen.« Elke Wagner war von hinten an ihn herangetreten und legte ihre schmale Hand auf seine Schulter.
»Ähm, die andere Wohnung …«, brachte sich Daniel ein, »Haben Sie die auch eingerichtet?«
»Ja sicher. Das hätte Jessica alleine nicht gekonnt.« Der Bauunternehmer hustete kurz und sprach dann weiter: »Jessi brauchte mehr Freiraum, sie wollte sich abnabeln, ist doch normal mit Anfang 20, da