treiben. An verschiedenen Ständen priesen Händler ihre Waren an: Schmuck, Souvenirs, Tücher, Selbstgemachtes aus Holz und Filz, Süßigkeiten. Die typischen Düfte eines Volksfestes nach Bier, gebratenen Mandeln, Zuckerwatte und Popcorn wehten ihnen entgegen. Aber auch nach stark gewürzten Speisen roch es. Birthe ging zu den Ständen, die Currywurst verkauften, zeigte zwei Fotos von Jessica Wagner auf ihrem Handy und fragte, ob jemand die junge Frau am späten Abend des 5. Mai allein oder in Begleitung gesehen habe. Mit dem Ergebnis der Befragung hatte sie gerechnet. Niemand konnte sich an die junge Sängerin erinnern.
Nach einer Stunde gab Birthe auf. »Wir gehen in den nächsten Tagen noch einmal los. Das Personal wechselt ja.«
Hand in Hand erreichten sie den Domhof und steuerten auf das Wahrzeichen des Volksfestes zu: das nostalgisch bemalte, bestimmt 100 Jahre alte Kettenkarussell.
»Bist du schwindelfrei?«, fragte er und starrte zu den fliegenden Sesseln empor.
»Nein«, lachte sie. »Es ist ewig her, dass ich damit gefahren bin. Mehr als 20 Jahre.«
»Dann wird es Zeit für eine Wiederholung. Pass auf, ich sitze außen, du innen, da geht es nicht ganz so hoch, und ich halte die ganze Zeit über deine Hand. Versprochen.«
Misstrauisch sah sie nach oben. Sie hasste es, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben.
»He«, sagte er und legte beruhigend seinen Arm um sie. »Die kommen alle wieder runter. Der Blick über die Altstadt, den Dom und die Marienkirche ist die Sache bestimmt wert.«
Von keinem anderen Menschen hätte sie sich zu etwas überreden lassen, was sie eigentlich nicht wollte. Doch mit Henning war es anders. Mit ihm zusammen hatte sie Lust, über ihren Schatten zu springen. Vielleicht wollte sie dadurch gemeinsame Erlebnisse schaffen. Oder Erinnerungen?
»Na gut«, sagte sie zaghaft, und er ging los, um Fahrchips zu kaufen.
Sie suchten sich Sessel nebeneinander, schwangen sich hinein und schlossen die Ketten. Birthe wurde bereits flau im Magen, als sich das Karussell sachte in Bewegung setzte. Kurz darauf beschleunigte es und gewann an Höhe. Immer schneller und höher flogen sie über die Dächer der Altstadt. Die Musik und das Stimmengewirr drangen nur noch gedämpft zu ihnen hinauf. Auch die typischen Gerüche des Marktes waren kaum noch wahrzunehmen. Anfangs hatte sich Birthe verkrampft am Gestänge festgehalten, aber als Hennig ihr zulächelte, konnte sie sich ein wenig entspannen und die ungewohnte Perspektive genießen. Von oben betrachtet sah der Domhof wie eine Theaterkulisse aus. Hennings Nähe gab ihr Kraft, und irgendwann schaffte sie es sogar, die Aussicht zu genießen.
»Und?«, fragte er lachend, als sie mit den Füßen wieder den Boden berührten.
Birthe war ein bisschen blass um die Nase und atmete erst einmal tief durch. »Ganz okay.«
»Noch mal?«, grinste er.
»Nee. Einmal reicht. War aber wirklich schön.«
Sie beschlossen, die verbliebene Zeit bis zu Hennings Abfahrt in der Crêperie am Markt zu verbringen. Da draußen alle Stühle besetzt waren, gingen sie hinein und gesellten sich zu einem anderen Paar, das an einem längeren Tisch am Fenster saß. Sie bestellten Crêpes mit heißen Kirschen und Sahne, dazu Milchkaffee. Nach all dem Sehen und Laufen tat es gut, ein bisschen Ruhe zu genießen und das Treiben auf dem Platz zu beobachten.
»Nächstes Jahr muss ich dafür sorgen, dass ich zur Maiwoche ein paar Tage freibekomme. Dann sitzen wir wieder hier«, meinte er zuversichtlich und schlürfte seinen Milchkaffee.
Sie nickte, plötzlich von Zweifeln befallen, ob sie in einem Jahr überhaupt noch ein Paar sein würden. Wunderschön war es mit ihm – ein ewiges Pendeln zwischen Traum und Wirklichkeit, an das sie sich gewöhnt hatte und das sie nicht missen wollte, – doch der bevorstehende Abschied führte ihr wieder einmal vor Augen, wie zerbrechlich und problembelastet ihre Beziehung war und wie wenig aussichtsreich eine gemeinsame Zukunft.
Später, in Birthes Wohnung am Schnatgang, begann Henning sofort zu packen. Da war es um sie geschehen und sie brach in Tränen aus. Widerstrebend begleitete sie ihn in den Hof, wo sein Auto stand. Eine letzte innige Umarmung, ein letzter Kuss.
Sehnsüchtig blickte sie dem blauen Kangoo hinterher, bis er aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war. Dann war sie allein. Ihr Herz fühlte sich an wie ein bleischwerer, kalter Klumpen.
*
»Abschiedsschmerz?«, fragte Daniel knapp drei Stunden später. Wie Birthe war er mit dem Fahrrad gekommen, weil man wegen des Volksfestes keine Chance hatte, in der Innenstadt einen Parkplatz zu finden. Vom Stadtteil Wüste aus, wo er seit Neuestem wieder wohnte, war es aber auch nicht weit.
Sie fühlte sich ertappt. Wenn sie geweint hatte, sah man das noch lange an ihren trüben, rotgeränderten Augen. »Ein bisschen vielleicht. Damit muss ich klarkommen.«
»Arbeit ist die beste Medizin, sagt meine Oma immer.«
»Daher also deine Sprüche«, erwiderte sie mit einem schiefen Lächeln.
»Oma hat mich halt geprägt, mehr noch als Mama. So, wollen wir mal schauen, was wir da gleich für Hardrocker vor uns haben. Bin gespannt, ob die heute überhaupt in der Lage sind, ordentlich Mucke zu machen.«
»Tobecke meinte, sie könnten es sich nicht erlauben abzusagen. Die Ausfallkosten wären zu hoch.«
»Das wird sicher stimmen. Aber es macht keinen Spaß, abzurocken, wenn zwei Tage vorher noch jemand mit in der Band war, der nun tot ist, ne?«
Sie stellten ihre Räder in der Nähe des Auftrittsortes ab und bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge.
»Wirst du nachher mit ihnen sprechen?«, wollte Daniel wissen.
Birthe zuckte mit den Schultern. »Kurz vielleicht, wenn es sich ergibt. Mir reicht es eigentlich, mir zunächst ein Bild zu machen, mal schauen, wie sie untereinander agieren, ob sie authentisch sind. Übrigens hat mich Maria Koswalla angerufen und auf den aktuellen Stand gebracht.« Sie informierte Daniel über die neuesten Erkenntnisse. Gespannt, wie er reagieren würde, beobachtete sie ihn. Doc Martens gehörten seit Langem zu ihren Lieblingsschuhen, sie besaß sie in mehreren Farben und Modellen, und die Schuhgröße würde auch passen.
Daniel hob die Augenbrauen. »Da hat sich wohl jemand deine Schuhe ausgeliehen, was?«, neckte er sie. »Oder du warst es selbst!«
»Schlechter Scherz, Daniel«, fand Birthe.
»Wir suchen also nach einem Mann mit kleinen Füßen oder einer Frau mit großen Füßen.«
»Mit ganz normalen Füßen«, korrigierte Birthe.
»Okay, also eine Frau mit ganz normalen Füßen.«
»Und dunkel gefärbten Haaren. Oder nach einem Mann mit kleinen Füßen und grauen Haaren, hm.« Unwillkürlich musste sie an Carsten Tobecke denken.
Als sie sich dem Nikolaiort näherten – vorbei an den mobilen Betonklötzen, die wegen der Terrorgefahr aufgestellt worden waren –, sahen sie die fünf Bandmitglieder, die sich bereits zum Soundcheck auf der Bühne eingefunden hatten. Sie alle waren in Schwarz gekleidet. Vorn befanden sich zwei Frauen, eine mittelgroß, rothaarig und kräftig, die andere dunkelhaarig, klein und zierlich, dahinter drei Männer. Einer eher gesetzten Alters, sehr schlank, einer jung und gut gebaut, einer im mittleren Alter und kräftig. Sie redeten nicht miteinander, sondern standen unschlüssig da und schauten den Technikern bei der Arbeit zu. Kabel mussten verlegt und mit breiten Klebestreifen am Boden festgeklebt werden, damit niemand über sie stolperte. Die beiden Gitarristen begannen damit, ihre Instrumente zu stimmen.
Birthe zeigte ihrem Kollegen Handyfotos, die ihr Tobecke geschickt hatte. »Die zierliche Sängerin links müsste Katharina Jütting sein, die bisherige Frontsängerin der Band. Sie war vorgestern Abend wegen einer Erkältung nicht mit dabei. Für sie ist Jessica Wagner eingesprungen, unser Mordopfer. Neben Jütting steht Clarissa Will. Sie singt die tiefere Stimme, die Altstimme.«
»Und die Jungs?«
»Der