Gustave Flaubert

Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz


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Verbleibenden zechten die Nacht hindurch in der Küche weiter. Die Kinder waren unter den Bänken eingeschlafen.

      Die Braut hatte ihren Vater inständig gebeten, dass sie von den üblichen Späßen verschont bleibe. Aber einer der Vettern, ein Fischhändler (der als Hochzeitsgeschenk zwei Seezungen mitgebracht hatte), war drauf und dran, mit dem Mund Wasser durchs Schlüsselloch zu spritzen, als der alte Rouault gerade noch rechtzeitig dazu kam, um ihn daran zu hindern; er machte ihm klar, dass dergleichen Ungehörigkeiten sich nicht mit der Würde seines Schwiegersohns vertrügen. Der Vetter gab jedoch diesen Gründen nur widerwillig nach. Insgeheim hielt er den alten Rouault für aufgeblasen, und er ging weg und setzte sich in eine Ecke zu vier oder fünf andern Gästen, die während des Essens zufällig mehrmals hintereinander bei den Fleischspeisen Missgriffe getan hatten; sie meinten, sie seien schlecht bewirtet worden, tuschelten auf Kosten ihres Gastgebers und wünschten ihm andeutungsweise den Ruin.

      Die Mutter Bovary hatte während des ganzen Tages den Mund nicht aufgetan. Sie war weder was die Toilette ihrer Schwiegertochter noch was die Speisenfolge des Festmahls betraf um Rat gefragt worden; sie zog sich beizeiten zurück. Anstatt ihr zu folgen, ließ ihr Mann sich aus Saint-Victor Zigarren holen, rauchte bis zum Tagesanbruch und trank Grog aus Kirschwasser, ein für die Dabeisitzenden unbekanntes Gemisch, das für ihn zur Quelle einer noch höheren Achtung wurde.

      Charles war von Natur alles andere als witzig; er hatte während des Hochzeitsessens nicht geglänzt. Gegenüber den Späßen, Kalauern, Zweideutigkeiten, Komplimenten und Possen, mit denen ihn zu überschütten man sich von der Suppe an zur Pflicht gemacht hatte, war er die rechte Antwort schuldig geblieben.

      Am nächsten Morgen indessen mutete er an wie ein völlig anderer Mensch. Er und nicht Emma war am Vortage sozusagen die Jungfrau gewesen, wogegen die Braut sich nichts anmerken ließ, aus dem man etwas hätte ersehen können. Den ärgsten Schandmäulern verschlug es die Sprache; sie musterten sie, wenn sie vorüberging, über die Maßen erstaunt. Charles jedoch verhehlte nichts. Er nannte sie »mein Frauchen«, duzte sie, erkundigte sich bei jedermann nach ihr, suchte sie überall und zog sie oftmals in ein Gehege, wo man ihn von weitem unter den Bäumen sah, wie er ihr den Arm um die Taille legte, sich im Weitergehen halb über sie beugte und ihr mit dem Kopf das Brusttuch zerknitterte.

      Zwei Tage nach der Hochzeit brachen die Neuvermählten auf: Charles konnte seiner Patienten wegen nicht länger fortbleiben. Der alte Rouault ließ sie in seinem zweibänkigen Einspänner heimfahren und begleitete sie bis Vassonville. Dort küsste er die Tochter ein letztes Mal, stieg aus und ging seines Weges. Als er etwa hundert Schritte zurückgelegt hatte, blieb er stehen, und als er sah, wie das Gefährt, dessen Räder Staub aufwirbelten, sich immer weiter entfernte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Dann gedachte er seiner eigenen Hochzeit, der früheren Zeiten, der ersten Schwangerschaft seiner Frau; auch er war damals sehr fröhlich gewesen an jenem Tag, da er sie aus dem Haus des Schwiegervaters in das seine geholt, als sie hinter ihm auf dem Pferde gesessen hatte und sie über den Schnee getrabt waren; es war nämlich um die Weihnachtszeit und das Land war ganz weiß gewesen; mit der einen Hand hatte sie sich an ihm festgehalten, die andere hatte ihren Korb getragen; der Wind hatte den langen Spitzenbesatz ihrer landesüblichen Haube flattern lassen, manchmal hatte sie seinen Mund gestreift, und wenn er den Kopf gewandt hatte, dann hatte er dicht bei sich, über die Schulter hinweg, ihr rosiges Gesichtchen gesehen, das unter dem Goldzierat der Haube still lächelte. Um sich die Finger zu wärmen, hatte sie sie von Zeit zu Zeit vorn in seine Jacke gesteckt. Wie lange war das her! Ihrer beider Sohn würde jetzt dreißig sein! Da sah er sich nochmals um und erblickte auf der Landstraße nichts mehr. Er fühlte sich traurig wie ein ausgeräumtes Haus; und da sich in seinem durch die Gasterei benebelten Kopf die zärtlichen Erinnerungen mit schwermütigen Gedanken mischten, verspürte er einen Augenblick das Verlangen, einen Umweg vorbei an der Kirche zu machen. Indessen fürchtete er, dass dieser Anblick ihn noch trauriger stimmen werde, und so ging er geradewegs wieder heim.

      Monsieur und Madame Bovary langten gegen sechs in Tostes an. Die Nachbarn stürzten an die Fenster, um die junge Frau ihres Arztes zu sehen.

      Die alte Magd kam, begrüßte ihn und entschuldigte sich, dass das Abendessen nicht fertig sei; sie schlug Madame vor, sich inzwischen ihr Haus anzusehen.

      V

      Die Backsteinfassade stand genau in der Fluchtlinie der Straße oder vielmehr der Landstraße. Hinter der Haustür hingen ein Mantel mit kleinem Kragen, ein Zügel, eine schwarze Ledermütze, und in einem Winkel lagen auf der Erde ein Paar Gamaschen, an denen noch der getrocknete Dreck haftete. Rechts lag die große Stube, das heißt: der Raum, wo gegessen wurde und wo man sich aufzuhalten pflegte. Eine kanariengelbe Tapete, die oben durch eine Girlande aus blassen Blumen belebt wurde, zitterte von oben bis unten, so schlecht war der Leinenuntergrund gespannt; die Gardinen waren aus weißem Kattun mit roter Borte; sie überschnitten sich an den Fenstern, und auf dem schmalen Kaminsims glänzte eine Stutzuhr mit einem Hippokrateskopf zwischen zwei versilberten Leuchtern unter ovalen Glasglocken. Auf der anderen Seite des Flurs lag Charles’ Sprechzimmer, ein kleines Gelass von etwa sechs Fuß Breite, mit einem Tisch, drei Stühlen und einem Schreibtischsessel. Die Bände des »Medizinischen Lexikons« waren unaufgeschnitten, und ihre Broschur war bei all den Versteigerungen, die sie durchgemacht hatten, arg schadhaft geworden; sie füllten ganz allein schon die sechs Fächer eines Büchergestells aus Tannenholz. Während der Sprechstunde drang der Kochdunst durch die Wand, gerade wie man in der Küche die Patienten husten und des langen und breiten ihre Geschichte erzählen hören konnte. Dann kam, mit einem Ausgang unmittelbar nach dem Hof hin, wo der Pferdestall war, ein großer, verwahrloster Raum; er enthielt einen Backofen und diente jetzt als Holzschuppen, Keller und Rumpelkammer; er war vollgepfropft mit altem Eisenkram, leeren Fässern, ausgedientem Ackergerät und einem Haufen anderer verstaubter Dinge, deren Zweck sich unmöglich erraten ließ.

      Der Garten war mehr lang als breit; er erstreckte sich zwischen zwei Lehmmauern mit Strohkappe und Aprikosenspalieren bis zu einer Dornenhecke, die ihn von den Feldern trennte. In der Mitte stand auf einem gemauerten Sockel eine Sonnenuhr aus Schiefer; vier Beete mit kümmernden Buschrosen umgaben symmetrisch das nützlichere Viereck mit Gemüse und Küchenkräutern. Ganz hinten unter amerikanischen Fichten stand ein gipserner Pfarrer und las sein Brevier.

      Emma stieg zu den Schlafzimmern hinauf. Das erste war überhaupt nicht möbliert; aber im zweiten, dem ehelichen Schlafgemach, stand in einer Nische mit roter Draperie ein Mahagonibett. Ein Muschelkästchen zierte die Kommode; und auf dem Schreibpult am Fenster stand in einer Karaffe ein von weißen Atlasbändern umwundener Orangenblütenstrauß. Es war ein Hochzeitsstrauß, der Strauß der andern! Emma sah ihn sich an. Das bemerkte Charles; er nahm ihn und trug ihn auf den Speicher, während Emma in einem Lehnstuhl saß (rings um sie her wurden ihre Sachen aufgebaut) und an ihren eigenen Hochzeitsstrauß dachte, der in einen Karton verpackt war; und sie fragte sich träumerisch, was wohl daraus werden würde, wenn zufällig sie als die erste sterben sollte.

      Während der ersten Tage beschäftigte sie sich damit, die Änderungen zu überlegen, die sie im Haus durchführen wollte. Sie nahm die Glasglocken von den Leuchtern, ließ neue Tapeten ankleben, die Treppe streichen und im Garten rings um die Sonnenuhr Bänke aufstellen; sie fragte sogar, wie man es anfangen müsse, um ein Becken mit Springbrunnen und Fischen zu bekommen. Ihr Mann wusste, dass sie gern spazieren fuhr; also kaufte er aus zweiter Hand einen zweirädrigen Einspänner, der, nachdem er neue Laternen und ein gestepptes Spritzleder bekommen hatte, fast wie ein Dogcart aussah.

      So war er also glücklich und aller Sorgen ledig. Eine Mahlzeit zu zweit, ein abendlicher Spaziergang auf der Hauptstraße, ein Gleiten ihrer Hand über das glatt anliegende Haar, der Anblick ihres Strohhuts, der an einem Fensterriegel hing, und viele andere Dinge noch, von denen Charles niemals geglaubt hätte, dass sie mit Lustgefühlen verbunden seien, bildeten für ihn jetzt eine Bürgschaft für die Beständigkeit seines Glücks. Morgens im Bett, Seite an Seite mit ihr auf dem Kopfkissen, schaute er zu, wie das Sonnenlicht durch den blonden Flaum ihrer von den breiten Flügeln der Nachthaube halb verdeckten Wangen glitt. So aus der Nähe gesehen kamen ihre Augen ihm größer vor, zumal wenn sie beim Erwachen die Lider mehrmals hintereinander öffnete und schloss; sie waren schwarz im Schatten und dunkelblau bei vollem Tagesschein; sie hatten