Gustave Flaubert

Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz


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verlor sich in diese Tiefen, und er sah sich darin verkleinert bis zu den Schultern, mit dem Schal, den er sich um den Kopf geschlungen hatte, und den oberen Rand seines halboffenen Hemds. Er stand auf. Sie stellte sich ans Fenster, um ihn fortreiten zu sehen; und dort blieb sie stehen, auf das Fensterbrett gestützt, zwischen zwei Geranientöpfen, im Morgenrock, der sie locker umschloss. Unten auf der Straße schnallte er sich an einem Prellstein die Sporen an; und sie fuhr fort, von oben her mit ihm zu sprechen, wobei sie mit dem Munde eine Blüte oder ein Blättchen abzupfte und ihm zublies; das schwebte dann und schaukelte in der Luft, flog in kleinen Halbkreisen wie ein Vogel und blieb, ehe es niederfiel, in der schlecht gestriegelten Mähne der alten Schimmelstute hängen, die unbeweglich vor der Haustür stand. Charles saß auf und warf ihr eine Kusshand zu; sie antwortete mit einem Nicken; sie schloss das Fenster, er ritt davon. Und dann, auf der Landstraße, die endlos ihr langes Staubband entfaltete, in Hohlwegen, über denen die Bäume sich zueinander neigten und Gewölbe bildeten, auf Feldwegen, wo das Getreide ihm bis zum Knie reichte, den Sonnenschein auf den Feldern, die Morgenluft in der Nase, das Herz noch erfüllt von den Beglückungen der Nacht, mit ruhigem Gemüt und befriedigtem Körper, ritt er einher und genoss sein Glück zum zweiten Mal wie einer, der nach dem Abendessen noch den Geschmack der Trüffeln, die er bereits verdaut, auf der Zunge hat.

      Was hatte er denn bislang an Gutem im Leben erfahren? Etwa seine Schulzeit, wo hohe Mauern ihn eingeschlossen hatten und er sich einsam zwischen Kameraden gefühlt hatte, die in ihren Klassen reicher oder stärker als er gewesen waren, die er durch seine Aussprache zum Lachen gebracht hatte, die sich über seine Kleidung lustig machten und deren Mütter mit Backwerk im Muff ins Sprechzimmer kamen? Oder etwa später, als er Medizin studiert und niemals genug Geld hatte, um irgendein Arbeitermädchen zum Tanz zu führen, das dann vielleicht seine Geliebte geworden wäre? Danach hatte er vierzehn Monate mit der Witwe zusammengelebt, deren Füße im Bett kalt gewesen waren wie Eisklumpen. Jetzt jedoch besaß er fürs Leben diese hübsche Frau, die er vergötterte. Für ihn ging das Weltall nicht über den seidigen Saum ihres Unterrocks hinaus; und er warf sich vor, er liebe sie nicht, es überkam ihn das Verlangen, sie zu sehen; schnell kehrte er um und stieg mit klopfendem Herzen die Treppe hinauf. – Emma war in ihrem Schlafzimmer bei ihrer Toilette; leisen Schrittes trat er zu ihr und küsste sie auf den Rücken; sie schrie auf.

      Er konnte es nicht lassen, immer wieder ihren Kamm, ihre Ringe, ihr Brusttuch zu berühren; manchmal gab er ihr mit vollen Lippen plumpe Küsse auf die Wangen oder reihte kleine Küsse auf ihrem nackten Arm aneinander, von den Fingerspitzen bis zur Schulter; und sie stieß ihn zurück, halb lächelnd und halb belästigt, wie man ein Kind wegschiebt, das sich an einen hängt.

      Vor der Hochzeit hatte sie geglaubt, sie liebe ihn; aber als das Glück, das aus dieser Liebe hatte entspringen sollen, ausblieb, dachte sie, sie müsse sich getäuscht haben. Und Emma suchte zu begreifen, was man denn eigentlich im Leben unter den Ausdrücken Glückseligkeit, Leidenschaft und Trunkenheit verstehe, die ihr in den Büchern so schön erschienen waren.

      VI

      Sie hatte »Paul und Virginie« gelesen und im Traum alles vor sich gesehen: die Bambushütte, den Neger Domingo, den Hund Fidelio, aber vor allem die zärtliche Freundschaft eines guten, brüderlichen Kameraden, der einem rote Früchte von Bäumen holt, die höher als Kirchtürme sind, oder der barfuß über den Sand gelaufen kommt und ein Vogelnest bringt.

      Mit dreizehn Jahren hatte ihr Vater sie nach der Stadt und ins Kloster gebracht. Sie waren in einem Gasthof des Stadtviertels Saint-Gervais abgestiegen, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt bekamen, auf denen die Geschichte der Mademoiselle de La Vallière dargestellt war. Die legendenhaften Erläuterungen, die hier und da von den Messern zerkratzt waren, verherrlichten alle die Religion, die zarten Gefühle des Herzens und den Prunk des Hofs.

      Während der ersten Zeit des Klosteraufenthalts langweilte sie sich nicht im mindesten; sie fühlte sich in der Gesellschaft der gütigen Schwestern wohl, die sie, um ihr eine Freude zu bereiten, in die Kapelle führten, in die man vom Refektorium durch einen langen Gang gelangte. In den Pausen spielte sie nur sehr selten; im Katechismus kannte sie sich aus, und bei schwierigen Fragen war sie es, die dem Herrn Vikar stets antwortete. So lebte sie also, ohne je hinauszukommen, in der lauen Atmosphäre der Klassenzimmer und unter blassen Frauen, die Rosenkränze mit Messingkreuzen trugen, und versank sanft in das mystische Schmachten, das die Düfte vom Altar her, die Kühle der Weihwasserbecken und der Schimmer der Kerzen aushauchten. Anstatt der Messe zu folgen, betrachtete sie in ihrem Buch die frommen, azurblau umrahmten Vignetten; sie liebte das kranke Lamm, das von spitzen Pfeilen durchbohrte heilige Herz oder den armen Jesus, der unterwegs unter seinem Kreuz zusammenbricht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen Tag lang ohne Nahrung auszuhalten. Sie zerbrach sich den Kopf, welches Gelübde sie erfüllen könnte.

      Wenn sie zur Beichte ging, dachte sie sich kleine Sünden aus, nur damit sie länger im Halbdunkel knien konnte, mit gefalteten Händen, das Gesicht an das Gitter gepresst, unter dem Flüstern des Priesters. Die Gleichnisse vom Bräutigam, vom Gatten, vom himmlischen Geliebten und der ewigen Hochzeit, die in den Predigten immer wiederkehren, erweckten in der Tiefe ihrer Seele unverhoffte, süße Schauer.

      Allabendlich vor dem Gebet wurde im Arbeitsraum aus einem frommen Buch vorgelesen. Während der Woche irgendein Abschnitt aus der biblischen Geschichte oder aus den »Reden« des Abbé Frayssinous und sonntags, zur Erbauung, aus dem »Geist des Christentums«. Wie lauschte sie bei den ersten Malen den klangvollen Klagen romantischer Schwermut, die in allen Echos der Erde und der Ewigkeit widerhallten! Hätte sie ihre Kindheit in der Ladenstube irgendeines Geschäftsviertels verbracht, so würde sie vielleicht der Naturschwärmerei verfallen sein, die für gewöhnlich durch die Vermittlung der Schriftsteller anerzogen wird. Aber sie wusste über das Landleben allzu gut Bescheid; sie kannte das Blöken der Herden, die Milchspeisen, die Pflüge. Da sie an friedliche Vorgänge gewöhnt war, wandte sie sich dem Entgegengesetzten zu, dem Bewegten und Abwechslungsreichen. Sie liebte das Meer nur seiner Stürme wegen und das Grün einzig, wenn es spärlich zwischen Ruinen wuchs. Sie musste aus allem einen selbstischen Genuss schöpfen können; und sie warf als unnütz beiseite, was nicht auf der Stelle zur Labung ihres Herzens beitrug – ihr Charakter war eher sentimental als ästhetisch; sie war auf seelische Erregungen erpicht, nicht auf Landschaften.

      Es gab im Kloster eine alte Jungfer, die alle vier Wochen auf acht Tage kam und in der Wäschekammer arbeitete. Sie stand unter erzbischöflichem Schutz, weil sie einer alten, durch die Revolution verarmten Adelsfamilie angehörte; sie saß im Refektorium am Tisch der frommen Schwestern und hielt mit ihnen nach dem Essen ein Plauderstündchen, ehe sie wieder an ihre Arbeit ging. Oft stahlen sich die Klosterschülerinnen aus der Arbeitsstunde fort und suchten sie auf. Sie kannte galante Liedchen aus dem vorigen Jahrhundert und sang sie halblaut vor, während sie ihre Nadel betätigte. Sie erzählte Geschichten, wusste Neuigkeiten zu berichten, übernahm Besorgungen in der Stadt und lieh den Großen heimlich Romane, die sie immer in den Schürzentaschen bei sich trug und aus denen das gute Fräulein selber in den Pausen ihrer Tätigkeit ein paar lange Kapitel verschlang. Es wimmelte darin von Liebschaften, Liebhabern, Geliebten, verfolgten Damen, die in einsamen Gartenhäusern ohnmächtig, von Postillionen, die an jeder Poststation ermordet, von Rossen, die auf jeder Buchseite zuschanden geritten wurden, von düsteren Wäldern, Herzenswirrnissen, Schwüren, Seufzern, Tränen und Küssen, Gondelfahrten bei Mondschein, Nachtigallen im Gebüsch, von Edelherren, die tapfer wie die Löwen und sanft wie Lämmer waren, dabei maßlos tugendhaft, immer köstlich gekleidet und ungemein tränenselig. Ein halbes Jahr lang beschmutzte sich die fünfzehnjährige Emma die Finger mit diesem Staub alter Leihbüchereien. Später berauschte sie sich mit Walter Scott an historischen Gegenständen, träumte von Truhen, vom Saal der Wachen und Minnesängern. Am liebsten hätte sie auf einem alten Herrensitz gelebt, wie jene Schlossherrinnen im langmiedrigen Gewand, die unter Kleeblattfensterbogen ihre Tage hinbrachten, die Ellbogen auf dem Stein und das Kinn in der Hand, um aus der Ferne der Landschaft einen Ritter mit weißer Feder auf schwarzem Ross herangaloppieren zu sehen. Sie trieb zu jener Zeit einen Kult mit Maria Stuart und verehrte enthusiastisch alle berühmten oder unglücklichen Frauen. Jeanne d’Arc, Héloïse, Agnes Sorel, die schöne Helmschmiedin und Clémence Isaure lösten sich für sie wie Kometen aus den ungeheuerlichen Finsternissen der Weltgeschichte, aus denen