Bernhard Kempen

Europarecht


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325; P. Stalder, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 13 EG-Vertrag, 2001; R. Wernsmann, Bindung Privater an Diskriminierungsverbote durch Gemeinschaftsrecht, JZ 60 (2005), 224.

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      Der noch relativ junge Art. 19 Abs. 1 AEUV, dessen Regelungsgehalt erstmals durch den Vertrag von Amsterdam eingeführt wurde, enthält eine umfassende Rechtsgrundlage für die Bekämpfung von Diskriminierungen aus dort im Einzelnen aufgeführten Gründen durch das Treffen „geeigneter Vorkehrungen“ seitens der EU. Als Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes (→ Grundrechte: Gleichheitsrechte), der als Allgemeiner Rechtsgrundsatz (→ Rechtsquellen) das EU-Recht durchzieht, ermächtigt Art. 19 Abs. 1 AEUV somit zum Erlass spezieller Gleichheitsbestimmungen, die an die dort genannten unzulässigen Differenzierungsmerkmale anknüpfen. Art. 19 Abs. 2 AEUV ergänzt diesen Ansatz (seit dem Vertrag von Nizza) noch durch die Ermächtigung zum Erlass von „Grundprinzipien für Fördermaßnahmen“, die ebenfalls der Diskriminierung aus den genannten Gründen entgegenwirken sollen, dabei eine Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts allerdings gerade nicht zulassen. Insgesamt steht Art. 19 AEUV insbesondere neben den speziellen Gleichheitssätzen aus Art. 18 und Art. 157 AEUV und ergänzt diese um die in Absatz 1 genannten Kriterien.

      AAntidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › I. Rechtsnatur

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      Art. 19 AEUV dient als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass sekundärrechtlicher Bestimmungen, durch welche die Querschnittsklauseln in Art. 8 und Art. 10 AEUV konkretisiert werden können. Subjektive Rechte sind in Art. 19 AEUV hingegen nicht enthalten. Zudem ist die Norm auch nicht unmittelbar anwendbar. Daher hat die Große Kammer des → Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der kontrovers diskutierten Mangold-Entscheidung auch nicht auf die Vorgängernorm zurückgegriffen, um das Recht des Einzelnen auf Nichtdiskriminierung wegen des Alters zu begründen, sondern einen (ungeschriebenen) Allgemeinen Rechtsgrundsatz angenommen (EuGH, Urt. v. 22.11.2005, C-144/04 – Mangold –, Rn. 75). Auf diesem Wege werden die speziellen Diskriminierungsverbote unabhängig von Art. 19 AEUV zu primärrechtlich gewährleisteten subjektiven Rechten aufgewertet. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon muss allerdings nicht mehr auf ungeschriebenes Recht zurückgegriffen werden, weil insbesondere mit Art. 21 Abs. 1 GRCh auch eine nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV dem Primärrecht gleichgestellte Verbürgung existiert.

      AAntidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › II. Verhältnis des Art. 19 AEUV zum sonstigen Primärrecht

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      Die Anwendung des Art. 19 Abs. 1 AEUV wird dadurch begrenzt, dass diese Ermächtigungsgrundlage nur „[u]nbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge“ eingreift. Angesichts des Wortlauts drängt sich ein Vergleich mit Art. 18 UAbs. 1 AEUV auf, der allerdings nicht auf die „sonstigen“, sondern auf „besondere“ Bestimmungen der Verträge Bezug nimmt. Gleich bleibt allerdings die Darstellung des Verhältnisses zu den jeweiligen Bestimmungen durch die einleitende Präposition „[u]nbeschadet“, die angesichts der systematischen Nähe beider Normen zueinander identisch auszulegen ist (s. → Diskriminierungsverbot, allgemeines [Rn. 585]). Daher kommt auch Art. 19 Abs. 1 AEUV nur nachrangig zur Anwendung.

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      Er unterliegt zudem einer umfassenden Subsidiarität gegenüber allen sonstigen Ermächtigungsgrundlagen, die den Erlass von Sekundärrecht zulassen, das zumindest auch Maßnahmen gegen Diskriminierungen erfassen kann. Hier wirkt sich der oben dargestellte Unterschied in der tatbestandlichen Formulierung aus, denn anders als bei Art. 18 UAbs. 1 AEUV besteht die Subsidiarität nicht nur gegenüber speziellen Antidiskriminierungsvorschriften. Da es außer Art. 157 AEUV auch keine konkurrierenden, auf die gleichen Merkmale abstellenden Vorschriften gibt, wäre eine so verstandene Subsidiarität ohnehin auch weitgehend gegenstandslos. Somit verbleiben für Art. 19 AEUV die gezielt und ausschließlich auf die Bekämpfung von Ungleichbehandlungen aus den in Absatz 1 genannten Gründen gerichteten Maßnahmen. Angesichts der erheblichen Verfahrensanforderungen (Rn. 33 ff.) ist ein derart restriktives Verständnis angezeigt, um die für „sonstige Bestimmungen“ der Verträge vorgesehenen erleichterten Anforderungen nicht zu konterkarieren. Nur die Kompetenzergänzungsklausel ist ihrerseits angesichts der ausdrücklichen Anordnung in Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV subsidiär zu Art. 19 AEUV.

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      Aufgrund von Art. 19 Abs. 1 AEUV können Rechte des Einzelnen im Sekundärrecht verankert werden. Art. 21 Abs. 1 GRCh vermittelt in Bezug auf dieselben Merkmale (und weitere, nicht in Art. 19 Abs. 1 AEUV genannte) hingegen unmittelbar einklagbare Rechte, die von den Mitgliedstaaten (nur) bei der Durchführung des EU-Rechts zu gewährleisten sind.

      AAntidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › III. Verfahren

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      Art. 19 Abs. 1 und 2 AEUV enthalten unterschiedliche Verfahrensanforderungen, welche die jeweils zulässige Regelungstiefe reflektieren.

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      Für den Erlass der geeigneten Vorkehrungen gilt nicht das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV, sondern ein besonderes Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 Abs. 2 AEUV (sofern es in eine der Handlungsformen des Art. 288 Abs. 2 bis 4 AEUV mündet). Dieser Unterschied soll vermutlich den Einfluss der Mitgliedstaaten in den häufig von kontroversen Diskussionen begleiteten Regelungsbereichen sicherstellen, auf die sich Art. 19 Abs. 1 AEUV bezieht. So erfordert das besondere Gesetzgebungsverfahren zum einen die Zustimmung des → Europäischen Parlaments. Zum anderen wirkt sich in diesem Verfahren das Erfordernis der Einstimmigkeit im → Rat (Ministerrat) als souveränitätsschonend aus, da hierdurch jedem Mitgliedstaat ein Vetorecht für jegliche Maßnahme aufgrund von Art. 19 Abs. 1 AEUV zukommt.

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      Obwohl auf die gleichen Ziele ausgerichtet, wirken die auf Basis von Art. 19 Abs. 2 AEUV zu erlassenden Grundprinzipien für Fördermaßnahmen weniger einschneidend hinsichtlich der möglichen Verbindlichkeit und Regelungstiefe. Insbesondere wird jegliche Harmonisierung mitgliedstaatlicher Vorschriften ausgeschlossen. Daher greift hier ein erleichtertes Verfahren ein, namentlich das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV) einschließlich der Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter Mehrheit.

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