Bernhard Kempen

Europarecht


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Antidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › V. Anwendungsbereich der Norm

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      Ausweislich Art. 19 Abs. 1 AEUV kann der Rat nur „im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten“ tätig werden. Gegenüber der Formulierung in Art. 18 UAbs. 1 AEUV, der sich auf den Anwendungsbereich der Verträge bezieht, bedeutet dies eine Einschränkung. Während der Anwendungsbereich der Verträge in Art. 18 UAbs. 1 AEUV tendenziell eher weit ausgelegt wird, sind mit den „Zuständigkeiten“ i.S.d. Art. 19 Abs. 1 AEUV lediglich die legislativen Kompetenzen der EU gemeint. Nur dort, wo die EU gesetzgeberisch zu handeln ermächtigt ist, kann sie aufgrund von Art. 19 AEUV (die Einschränkung gilt auch für Art. 19 Abs. 2 AEUV) Vorkehrungen treffen bzw. Grundprinzipien für Fördermaßnahmen festlegen.

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      Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass von der Kompetenzübertragung auch die ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass von Anti-Diskriminierungsmaßnahmen umfasst sein muss; hierzu dient gerade der Art. 19 AEUV. Weiterhin ist nicht erforderlich, dass die Union von ihrer Kompetenz bereits Gebrauch gemacht haben muss; ihr bloßes Bestehen reicht aus. Ggf. enthaltene Harmonisierungsverbote sind allerdings zu berücksichtigen. Zwar lässt Art. 19 AEUV die Wahl der Handlungsform offen, aber dadurch dürfen die Vorbehalte zugunsten der Mitgliedstaaten nicht unterlaufen werden. Wo also die Harmonisierung mitgliedstaatlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften ausgeschlossen ist (z.B. in Art. 166 Abs. 4 AEUV bezüglich der Maßnahmen zur beruflichen Bildung), sind verbindliche Rechtsakte zur Diskriminierungsbekämpfung nicht statthaft.

      AAntidiskriminierungsmaßnahmen (Jan Martin Hoffmann) › VI. Geeignete Vorkehrungen und Grundprinzipien für Fördermaßnahmen

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      Der Wortlaut der Art. 19 Abs. 1 und 2 AEUV lässt offen, welche Handlungsformen der EU zur Verfügung stehen. Neben den unterschiedlichen Verfahren (s.o. Rn. 33 ff.) ist auch hinsichtlich der Intensität zu differenzieren.

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      Hierunter fallen grundsätzlich alle denkbaren Handlungsformen, d.h. neben rechtlich verbindlichen auch rechtlich unverbindliche (z.B. Empfehlung). Vornehmliches Mittel der Wahl waren bisher Richtlinien (s. die sog. Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/43/EG, die sog. Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG und die Richtlinie 2004/113/EG, welche die Gleichbehandlung der Geschlechter beim Zugang zu bzw. der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen betrifft). Somit kann die EU auch Einfluss auf die Gestaltung von Privatrechtsverhältnissen nehmen, die dann von der Umsetzungsgesetzgebung erfasst sind, sofern die jeweils genutzten, der Union übertragenen Zuständigkeiten (Rn. 45 f.) dies zulassen.

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      Werden die Mitgliedstaaten tätig, um Ungleichbehandlungen i.S.v. Art. 19 Abs. 1 AEUV zu bekämpfen, kann dies nach Art. 19 Abs. 2 AEUV durch die EU gefördert werden. Die EU darf also immer nur einen Beitrag leisten, und dieser darf lediglich unverbindlich sein, also keine Harmonisierung des nationalen Rechts vorschreiben.

      A › Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher)

      I.Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung51, 52

      II.Grundlagen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts53 – 65

       1.Herleitung54 – 57

       2.Inhalt und Auswirkung58 – 61

       3.Adressaten62, 63

       4.Abgrenzung zum Geltungsvorrang64, 65

      III.Grenzen des Anwendungsvorrangs66 – 74

       1.Einhaltung eines unabdingbaren Grundrechtsstandards68, 69

       2.Einhaltung der Kompetenzgrenzen (Ultra-vires-Kontrolle)70, 71

       3.Schutz der Verfassungsidentität (Identitätskontrolle)72, 73

       4.Einschätzung74

      Lit.:

      S. Hwang, Anwendungsvorrang statt Geltungsvorrang? Normlogische und institutionelle Überlegungen zum Vorrang des Unionsrechts, EuR 51 (2016), 355; T. Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013; M. Ludwigs/P. Sikora, Der Vorrang des Unionsrechts unter Kontrollvorbehalt des BVerfG, EWS 26 (2016), 121; B. Schöbener, Das Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland, JA 2011, 885; A. Schwerdtfeger, Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts-, ultra-vires- und Identitätskontrolle im gewaltenteiligen Mehrebenensystem, EuR 50 (2015), 290.

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      Der Anwendungsvorrang bezeichnet eine allgemeine Kollisionsregel für das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, die besagt, dass bei Normkollisionen dem EU-Recht Vorrang zukommt. Folge ist, dass das kollidierende mitgliedstaatliche Recht im konkreten Fall zwar nicht unwirksam, aber unanwendbar ist (Rn. 64 f.). Inhaltlich ist der Anwendungsvorrang des EU-Rechts v.a. von der unionsrechtskonformen Auslegung zu differenzieren (