Bernhard Kempen

Europarecht


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› IV. Bekämpfung von Diskriminierungen

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      Der Begriff „Diskriminierung“ wird vom EuGH für alle Diskriminierungsverbote gleich definiert; eine vertragsunmittelbare Definition gibt es nicht. Eine Diskriminierung besteht dann, wenn ein Betroffener benachteiligt wird, indem unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird (vgl. EuGH, Urt. v. 14.2.1995, C-279/93, Rn. 30). Zudem muss sie aus menschlichem Verhalten resultieren und kann – neben der rechtlich unmittelbaren Konsequenz – ebenfalls lediglich faktisch mittelbar wirken (s. auch → Diskriminierungsverbot, allgemeines [Rn. 587 ff.]; hinsichtlich der Möglichkeit der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung gilt das dort Dargelegte [Rn. 595]).

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      Die Maßnahmen, die aufgrund von Art. 19 AEUV erlassen werden, sollen der Bekämpfung von derartigen Diskriminierungen dienen. Hiermit ist zunächst gemeint, dass erkannte, bereits bestehende Diskriminierungen beseitigt werden sollen. Auch wenn das Hauptaugenmerk auf dieser Dimension liegt, so lässt die Ermächtigung darüber hinaus noch eine präventive Orientierung zu: das potentielle Auftreten künftiger Diskriminierungen zu verhindern darf das verfolgte Ziel sein.

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      Beschränkt wird der Kreis möglicher Ziele allerdings durch die Auflistung der unzulässigen Differenzierungskriterien in Art. 19 Abs. 1 AEUV. Dieser Artikel ist die Konkretisierung eines allgemeinen Diskriminierungsverbots, enthält er selbst doch nur eine enumerative Aufzählung (vgl. EuGH, Urt. v. 11.6.2006, C-13/05, Rn. 55 f.). Eine allgemeine, umfassende Maßnahme zur Bekämpfung jeglicher Ungleichbehandlungen kann nicht hierauf gestützt werden. Innerhalb der Aufzählung ist keine Hierarchie vorgesehen, die genannten Kriterien sind also alle gleichrangig und daran anknüpfende Ungleichbehandlungen in gleicher Weise zu bekämpfen. Die speziellen Gleichheitssätze sind zwar ebenfalls in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu finden, jedoch müssen die Begriffe unionsrechtlich autonom ausgelegt werden, um ein einheitliches Verständnis der auf Art. 19 AEUV gestützten Maßnahmen sicherzustellen (→ Auslegung des EU-Rechts).

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      Der Begriff „Geschlecht“ in Art. 19 Abs. 1 AEUV zielt zunächst auf die Gleichbehandlung von Mann und Frau ab, ist hierauf jedoch nicht beschränkt. Bereits ein Vergleich mit Art. 157 Abs. 1 AEUV deutet dies an, indem dort ausdrücklich nur auf Männer und Frauen als gleich zu bezahlende Kategorien von Erwerbstätigen Bezug genommen wird (obschon in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass sich bspw. auch Transsexuelle nach erfolgter Geschlechtsumwandlung auf diesen Artikel berufen können, vgl. EuGH, Urt. v. 30.6.1996, C-13/94, Rn. 20 f.). Neben Transsexuellen sollen auch Transvestiten und Hermaphroditen erfasst sein, Homosexuelle allerdings nicht (für diese Gruppe gilt der Anknüpfungspunkt „sexuelle Ausrichtung“, vgl. EuGH, Urt. v. 17.2.1998, C-249/96, Rn. 47 f.).

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      Bezüglich der Merkmale „Rasse“ und „ethnische Herkunft“ fehlt es an einer unionsrechtlichen Definition. Die Idee der Existenz verschiedener menschlicher Rassen wird vielmehr vom Unionsgesetzgeber im sechsten Erwägungsgrund der sog. Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/43/EG (die auf Art. 13 EGV, mithin die Vorläufernorm zu Art. 19 Abs. 1 AEUV, gestützt wurde) zurückgewiesen. Gleichwohl wird der Begriff Rasse verwendet und als unzulässiges Differenzierungskriterium benannt. Verstanden werden kann er als Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit bestimmten vererblichen Merkmalen wie Hautfarbe oder sonstigen genetischen Merkmalen. Die ethnische Herkunft ihrerseits bezieht sich auf die einheitliche Sprache und Kultur einer Gruppe oder die im Wesentlichen einheitliche Abstammung (vgl. EuGH, Urt. v. 16.7.2015, C-83/14, Rn. 46). Eine Gleichsetzung mit der Staatsangehörigkeit dürfte bereits grundsätzlich an der multiethnischen Zusammensetzung mitgliedstaatlicher Bevölkerungen scheitern, ist ohnehin aber aufgrund der insoweit spezielleren Regelung in Art. 18 UAbs. 1 AEUV systematisch nicht vertretbar.

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      Ebenso wie Rasse und ethnische Herkunft sind auch die Begriffe „Religion“ und „Weltanschauung“ nicht im Unionsrecht definiert. Weiterhin lassen sich beide Merkmale nicht in allen Konstellationen trennscharf voneinander abgrenzen, wobei der Vertragstext bereits andeutet, dass dies für die Ausübung der durch Art. 19 AEUV eingeräumten Kompetenzen gar nicht vonnöten ist: Während die anderen Merkmale in einer Aufzählung durch Kommata abgetrennt sind, steht der Ausdruck „Religion oder Weltanschauung“ zusammen. Religion nimmt in erster Linie auf eine transzendente Glaubensüberzeugung Bezug, wovon nicht nur gemeinhin anerkannte Konfessionen oder institutionell zusammengeschlossene Gruppierungen erfasst sind. Weltanschauung zielt hingegen stärker auf die persönliche Werteordnung und den Sinn menschlichen Daseins ab. Im Ergebnis dürfte aber jede Religion zumindest auch weltanschauliche Gehalte haben und daher die Weltanschauung der weitergehende Begriff sein. Neben der inneren Überzeugung und Haltung – dem forum internum – betrifft das Merkmal auch das forum externum, also die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung mit anderen öffentlich oder privat z.B. durch Gottesdienst oder sonstige Bräuche oder Riten zu bekennen (vgl. EuGH, Urt. v. 14.3.2017, C-157/15, Rn. 28).

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      „Behinderungen“ sind Einschränkungen, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen sind (EuGH, Urt. v. 11.6.2006, C-13/05, Rn. 43) und die eine gemeinhin als normal empfundene Tätigkeit unmöglich machen oder zumindest wesentlich erschweren. Maßgebliche Voraussetzung ist, dass die Einschränkung nicht nur eine vorübergehende ist, sondern von Dauer (EuGH, Urt. v. 22.5.2014, C-356/12, Rn. 45); chronisch Kranke können also auch als behindert i.S.d. Art. 19 Abs. 1 AEUV gelten.

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      Mit dem Begriff „Alter“ ist nicht lediglich der Schutz lebensälterer Personen gemeint, sondern es kann eine allgemeine, altersunabhängige Gleichbehandlung angestrebt werden. Somit können auf Art. 19 AEUV gestützte Maßnahmen durchaus zugunsten jüngerer Menschen ergehen, auch wenn hauptsächlich der Schutz älterer im Fokus steht. Demnach sind die in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen häufig zu findenden Höchstaltersgrenzen rechtfertigungsbedürftig, können aber bspw. aufgrund beschäftigungspolitischer Ziele zulässig sein, vgl. Art. 6 Abs. 1 der sog. Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG (hierzu EuGH, Urt. v. 16.10.2007, C-411/05, Rn. 52 ff.).

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      Die „sexuelle Ausrichtung“ ist abzugrenzen vom Geschlecht, das ausweislich Art. 19 Abs. 1 AEUV einen selbständigen unzulässigen Differenzierungsgrund darstellt und einen eigenständigen Regelungsbereich erfasst. Gemeint ist die Orientierung im Hinblick auf das von einer Person bei der (Sexual-)Partnerwahl bevorzugte Geschlecht, wobei durchaus auch die Bisexualität eingeschlossen ist. Denkbar, wenngleich noch nicht vom EuGH entschieden, ist auch, das Sexualleben im Hinblick auf Präferenzen unabhängig vom Geschlecht einzubeziehen, also den Schutz nicht an die Beteiligten, sondern an deren Verhalten zu knüpfen.