Bernhard Kempen

Europarecht


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      Der Anwendungsvorrang ist von sämtlichen Organen und Einrichtungen der Mitgliedstaaten und ihrer Gliedstaaten zu beachten, soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. Insbesondere sind die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, kollidierendes innerstaatliches Recht nicht anzuwenden – und zwar auch dann, wenn ihnen nach innerstaatlichem Recht keine Normverwerfungskompetenz eingeräumt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 9.3.1978, 106/77 – Simmenthal II –, Rn. 21 ff.). In diesem Zusammenhang kommt der Möglichkeit nationaler Gerichte, ein → Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV einzuleiten, eine bedeutende Rolle zu. Dieses Verfahren ist zwar auf die Auslegung von Unionsrecht beschränkt; durch entsprechende Formulierung der Vorlagefrage kann jedoch faktisch auch die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Norm mit dem Unionsrecht einer Überprüfung durch den EuGH zugänglich gemacht werden. Zu berücksichtigen ist der Anwendungsvorrang auch von nationalen Verwaltungsbehörden, die insoweit zur Prüfung der Vereinbarkeit mit Unionsrecht und, im Falle der Kollision, zur Nichtanwendung der innerstaatlichen Vorschrift verpflichtet sind.

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      Schließlich bindet der Anwendungsvorrang die nationalen Gesetzgeber insoweit, als auch später erlassene Gesetze ihm unterliegen; für diese folgt eine Pflicht zur Achtung und Umsetzung des Unionsrechts zudem aus dem Loyalitätsgebot (Art. 4 Abs. 3 EUV). Hieraus ergibt sich im Einzelfall ein Verbot des Tätigwerdens i.S.e. Kompetenzsperre, soweit nämlich Gegenstände betroffen sind, die in die ausschließliche Kompetenz der Union fallen oder in Bezug auf die die Union auf der Grundlage einer geteilten (konkurrierenden) Zuständigkeit bereits tätig geworden ist (→ Verbandskompetenz). Aus dem Anwendungsvorrang ergibt sich überdies eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Rechtsbereinigung, d.h. eine Pflicht, wegen Kollision mit dem Unionsrecht unanwendbar gewordenes nationales Recht aufzuheben (EuGH, Urt. v. 2.7.1996, C-290/94, Rn. 29).

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      Der Anwendungsvorrang bewirkt die Nichtanwendbarkeit des mit Unionsrecht unvereinbaren innerstaatlichen Rechts; dieses darf im konkreten Fall nicht herangezogen werden, muss also bei der konkreten Entscheidung außer Betracht bleiben. Die innerstaatliche Rechtsnorm bleibt jedoch weiterhin gültiges Recht. Ein Geltungsvorrang des Unionsrechts mit der Folge der generellen Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit ist nicht erforderlich, um dessen Vorrang im Kollisionsfall sicherzustellen, und wäre daher unverhältnismäßig.

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      Dies bewirkt, dass die grundsätzlich vom Anwendungsvorrang verdrängte mitgliedstaatliche Vorschrift auf Sachverhalte, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, weiterhin Anwendung finden kann – z.B. im Verhältnis zu Drittstaatsangehörigen oder im rein innerstaatlichen Kontext. Im Vergleich zum Geltungsvorrang bleibt der nationale Gesetzgeber durch einen Anwendungsvorrang somit besser geschützt.

      AAnwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher) › III. Grenzen des Anwendungsvorrangs

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      Das Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Rechtsordnungen – hier Unionsrechtsordnung und mitgliedstaatliche Rechtsordnung(en) – kann, soweit nicht eine dieser Rechtsordnungen ihren Geltungsanspruch aus sich heraus uneingeschränkt zurücknimmt, nicht von einer dieser Rechtsordnungen abschließend vorgegeben werden. Der unionsrechtlich mit den funktionalen Erwägungen der Sicherung der Einheitlichkeit des Unionsrechts und der Verwirklichung der Ziele der Union begründete Vorrang setzt daher dessen Akzeptanz durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen voraus.

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      Aus Sicht des BVerfG und anderer mitgliedstaatlicher oberster und Verfassungsgerichte folgen unmittelbare Geltung und Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus dem mitgliedstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl – in Deutschland also aus dem Zustimmungsgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 und Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Grundlage für die Geltung des Unionsrechts im deutschen Rechtsraum ist aus dieser Perspektive das Grundgesetz. Unionsrecht kann dann nur i.R.d. verfassungsrechtlichen Grenzen Geltung erlangen; selbst für Fälle der verfassungsändernden Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Union gelten hiernach und im Einklang mit Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG die gem. Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfesten Bestimmungen der Art. 1 und 20 GG – und zwar auch als Begrenzung des Anwendungsvorranges.

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      Der historisch erste Bereich, in dem das BVerfG seine Prüfungskompetenz gegenüber Rechtsakten der Union ungeachtet des Anwendungsvorranges behauptete und später ausdifferenzierte, betrifft den Grundrechtsschutz gegen Maßnahmen der EU. Hatte sich das BVerfG anfangs eine Prüfung auf Einhaltung der Grundrechte vorbehalten, „solange“ die Organe der EG einen hinreichenden Grundrechtsschutz nicht gewährleisteten (BVerfGE 37, 271 [285] – Solange I), ging es später dazu über, auf die Überprüfung von Unionsrechtsakten am Maßstab der deutschen Grundrechte zu verzichten, solange ein dem deutschen System gleich zu achtender und den Wesensgehalt der Grundrechte generell sicherstellender, wirksamer Schutz durch die Organe der EG gewährleistet ist (BVerfGE 73, 339 [378 ff.] – Solange II; Näheres dazu unter → Grundrechte: Historische Entwicklung).

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      Mittlerweile werden Verfassungsbeschwerden gegen Sekundärrechtsakte für von vornherein unzulässig erachtet, es sei denn, der Beschwerdeführer könnte darlegen, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH seit der Solange-II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken, also der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet sei (BVerfGE 102, 147 [164] – Bananenmarktordnung). Das BVerfG nimmt insoweit lediglich im Anwendungsbereich von Art. 1 GG eine Identitätskontrolle vor (dazu unten Rn. 72 f.). Im Übrigen ist mit dieser Rechtsprechung der Anwendungsvorrang im Verhältnis zu den Grundrechten faktisch und auf absehbare Zeit gesichert; die Grundrechtsgewährung obliegt den europäischen Gerichten nach Maßgabe der Unionsgrundrechte.

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      Gemäß dem → Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung sind die Kompetenzen der Union durch die Verträge begrenzt; wird die Union außerhalb der so gesetzten Grenzen tätig, läge darin ein „ausbrechender Rechtsakt“ bzw. ein Handeln ultra vires („über ihre Befugnisse hinaus“). Das BVerfG behält sich die Prüfung der Kompetenzmäßigkeit von Unionsrechtsakten vor, da die Übertragung von Hoheitsrechten nach Maßgabe des gem. Art. 23 GG vom Bundestag verabschiedeten Zustimmungsgesetzes nur in Bezug auf ein klar festgelegtes und abgegrenztes „Integrationsprogramm“ erfolgen dürfe (BVerfGE 123, 267 [353 f.] – Lissabon). Eine Überschreitung der diesem Integrationsprogramm entsprechenden Kompetenzgrenzen seitens der Unionsorgane sei nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckt, weshalb ihnen insoweit die demokratische Legitimation fehle.

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      Allerdings setzt die Feststellung eines Handelns ultra vires voraus, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist, d.h. dass das kompetenzwidrige Handeln offensichtlich