Bernhard Kempen

Europarecht


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Ziel der Beihilfenkontrolle ist die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen durch die Bevorteilung bestimmter Unternehmen aufgrund staatlicher Unterstützungsmaßnahmen und der Ausschluss von Subventionswettläufen zwischen den Mitgliedstaaten (EuGH, Urt. v. 17.9.1980, 730/79 – Philip Morris –, Rn. 25 f.).

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      Der Anwendungsbereich des EU-Beihilfenrechts erstreckt sich sachlich auf jede Maßnahme eines Mitgliedstaates der EU, die ein bestimmtes Unternehmen oder einen bestimmten Produktionszweig gegenüber anderen bevorteilt, unabhängig davon, in welchem Sektor das begünstigte Unternehmen oder der begünstigte Produktionszweig tätig ist. Ausnahmen davon finden sich allerdings z.B. in Art. 42 f. AEUV für die Landwirtschaft und in Art. 93 AEUV für den Verkehr. Keine Anwendung findet das EU-Beihilfenrecht auf Beihilfen, die von der EU selbst gewährt werden (z.B. im Zusammenhang mit Infrastrukturmaßnahmen nach Art. 170 AEUV). Der räumliche Anwendungsbereich des EU-Beihilfenrechts umfasst sämtliche Mitgliedstaaten gem. Art. 52 EUV sowie die Gebiete gem. Art. 349 UAbs. 1 S. 1 AEUV.

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      Das EU-Beihilfenrecht ist von überragender praktischer Bedeutung. Staatliche Beihilfen stellen eines der zentralen Instrumente der Mitgliedstaaten dar, um durch Eingriffe in Märkte bestimmte (nicht notwendigerweise wirtschaftliche) politische Ziele zu verfolgen. So wurden im Jahr 2015 EU-weit 98 Mrd. EUR (das entspricht 0,67 % des Bruttoinlandsprodukts der EU) für staatliche Beihilfen an Unternehmen aufgewendet. Die Vielzahl der staatlichen Beihilfen führt zu einer spürbaren Belastung der Kommission mit Prüfverfahren und Entscheidungen. Im Zeitraum von 2000 bis Juni 2012 wurden insgesamt rechtswidrige Beihilfen i.H. v. ca. 13,5 Mrd. EUR zurückgefordert und bereits zurückgezahlt, während 2,3 Mrd. EUR an rückzuzahlenden Beihilfen zu diesem Zeitpunkt noch ausstanden. Im Mai 2016 hatte die Kommission bereits in 276 Verfahren Rückforderungsbeschlüsse erlassen.

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      Aufgrund der mit der Anzahl an Verfahren einhergehenden Arbeitsbelastung der Kommission hat mittlerweile de facto ein Paradigmenwechel im EU-Beihilfenrecht stattgefunden. Der ursprüngliche Ansatz, wonach alle staatlichen Beihilfen zunächst bei der Kommission angemeldet werden mussten, damit ihr die Möglichkeit zur Überprüfung eröffnet wird, bleibt formal unangetastet. Jedoch werden aufgrund der im Frühjahr 2017 zuletzt ergänzten AGVO in der Praxis rund 95 % aller staatlichen Beihilfen von der Notifizierungspflicht ausgenommen, so dass der Sache nach jetzt auch im EU-Beihilfenrecht ein System der Legalausnahme besteht. Unterstrichen wird dies durch die gleichzeitige Förderung eines sog. private enforcement des EU-Beihilfenrechts. Die dadurch frei werdenden Kapazitäten der Kommission sollen zur Kontrolle von staatlichen Beihilfen mit schwerwiegenden Auswirkungen auf den unionsweiten Handel genutzt werden (Grundsatz des big on big and small on smaller). Der Bedeutungszuwachs des EU-Beihilfenrechts macht sich nicht nur in der europäischen Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis bemerkbar, sondern auch in einer signifikant ansteigenden Zahl an Entscheidungen deutscher Gerichte. Damit gehen allerdings vielschichtige und noch nicht endgültig gelöste Probleme der Kompetenzabgrenzungen einher.

      BBeihilfenrecht (Ulrich Ehricke) › II. Verbotstatbestand

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      Art. 107 Abs. 1 AEUV beinhaltet einen Verbotstatbestand mit Ausnahmevorbehalt für neue staatliche Beihilfen. Darunter wird verstanden, dass staatliche Beihilfen i.d.R. vor ihrer Gewährung bei der Kommission angemeldet und von dieser auf ihre Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt überprüft werden müssen. Zweck einer solchen Regelung ist die Gewährleistung einer Ex-ante-Kontrolle der mit staatlichen Beihilfen einhergehenden Beeinträchtigungen des Wettbewerbs und des unionsweiten Handels durch die Kommission. Ausgenommen von dem Verbot sind (1) Maßnahmen, welche deshalb keine Beihilfen darstellen, weil sie nicht sämtliche Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen, (2) durch → Rechtsakte der Kommission von der Anmeldung freigestellte Beihilfen sowie (3) bereits bestehende (und nicht verbotene) Beihilfen (Altbeihilfen). Unter Altbeihilfen versteht man solche staatlichen Beihilfen, die entweder (1) aus der Zeit vor dem → Beitritt (zur EU) des betreffenden Mitgliedstaates stammen oder die (2) bereits genehmigt sind oder als genehmigt gelten, und (3) solche staatlichen Zuwendungen, die zur Zeit ihrer Gewährung noch keine Beihilfen darstellten.

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      Der Begriff der „Beihilfe“ i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV ist nicht legal definiert. Dem → Europäischen Gerichtshof (EuGH) kommt deshalb ein weiter Ermessensspielraum bei der Auslegung des Beihilfenbegriffs zu (→ Auslegung des EU-Rechts). Dies ergibt sich insbesondere aus der Formulierung „Beihilfen gleich welcher Art“ in Art. 107 Abs. 1 AEUV. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 21.3.1990, C-142/87 – Belgien/Kommission –, Rn. 25) setzt Art. 107 Abs. 1 AEUV für das Vorliegen einer (verbotenen) staatlichen Beihilfe kumulativ voraus, dass (1) begünstigten Unternehmen (2) ein wirtschaftlicher Vorteil verschafft wird, welcher (3) selektiv wirkt, (4) einem staatlich veranlassten Mitteltransfer zuzurechnen ist und (5) Auswirkungen auf den Wettbewerb sowie den zwischenstaatlichen Handel hat.

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      Das Verbot staatlicher Beihilfen setzt voraus, dass Unternehmen oder Produktionszweige von staatlichen Maßnahmen betroffen sind. Das EU-Beihilfenrecht folgt dabei dem für das gesamte EU-Wettbewerbsrecht geltenden funktionalen Unternehmensbegriff. Als Unternehmen wird demnach jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung verstanden. Der Begriff der Produktionszweige wird ebenfalls weit ausgelegt. Er umfasst neben der Produktion von Gütern auch Wirtschaftszweige im Dienstleistungssektor und im Handel. Die betreffenden Unternehmen oder Produktionszweige müssen begünstigt worden sein. Eine Begünstigung i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV ist gegeben, wenn das die staatliche Leistung empfangende Unternehmen oder der Produktionszweig einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt hat, den es oder er unter normalen Marktbedingungen nicht erlangt hätte, ohne dafür eine angemessene Gegenleistung erbracht zu haben.

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      Ob ein wirtschaftlicher Vorteil vorliegt, ist ebenfalls einer funktionalen Betrachtungsweise unterworfen. Ausschlaggebend für dessen Bestehen ist eine tatsächliche wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit der staatlichen Leistung, selbst wenn diese staatlicherseits nicht intendiert war. Damit können z.B. auch Quersubventionierungen von Unternehmen oder von Produktionszweigen Begünstigungen darstellen. Neben klassischen Beihilfen in Form von Subventionen führen aufgrund der funktionalen Betrachtungsweise auch sog. Verschonungssubventionen, welche etwa zur Verminderung einer Belastung eines Unternehmens oder eines Produktionszweiges durch Steuern oder sonstige öffentliche Abgaben führen, zu einen wirtschaftlichen Vorteil. Eine staatliche Zuwendung muss jedoch keineswegs monetär sein, um einen wirtschaftlichen Vorteil darzustellen. Sie kann vielmehr in jeglichem, die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens oder des Produktionszweiges verbessernden Vorteil bestehen, den das Unternehmen oder der Produktionszweig aus staatlichen Leistungen erlangt.

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      Für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) hat der EuGH im Urt. v. 24.7.2003, C-280/00 – Altmark