Bernhard Kempen

Europarecht


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de Lisbonne, 2010; P. Dreist, Militärische WEU-Operationen und der Umgang der WEU mit Rules of Engagement, NZWehrr 2009, 1, 55; ders., Rechtsgrundlagen für den Einsatz militärischer Gewalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr – Ist das deutsche Recht für die Zwangsmittelanwendung in Friedens- und Krisenreaktionsoperationen ergänzungsbedürftig?, UBWV 2015, 225, 289, 331, 353; M. Saalfeld, Entwicklung und Perspektiven der Westeuropäischen Union, 1992; E. v. Puttkamer, Vorgeschichte und Zustandekommen der Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954, ZaöRV 17 (1956/57), 448; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Staatliche Selbstverteidigung gegen Terroristen – Völkerrechtliche Bewertung der Terroranschläge von Paris vom 13. November 2015, WD 2 – 3000 – 203/15.

      BBeistandsfall (Peter Dreist) › I. Einleitung

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      Im Zuge der Terrorattentate von Paris am 13.11.2015 wurden insgesamt 130 Menschen getötet und 352 Personen verletzt. Ferner wurden bei den Attentaten sieben Terroristen getötet; zu den Anschlägen bekannte sich als Verursacher der sog. Islamische Staat (IS). Frankreich, dessen Präsident Hollande die Attentate als „bewaffneten Angriff“ und „kriegerischen Akt“ bezeichnete, hat am 17.11.2015 erstmalig in der Geschichte der EU die EU-Beistandsklausel aus Art. 42 Abs. 7 EUV aktiviert und die anderen Mitgliedstaaten um Beistand bei der Bekämpfung des IS in Syrien und im Irak gebeten. Einen weiteren Anwendungsfall der EU-Beistandsklausel hat es bis Januar 2017 nicht gegeben.

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      Die EU-Beistandsklausel wird im Einklang mit dem in Art. 51 UN-Charta anerkannten Selbstverteidigungsrecht ausgelöst, das eine Ausnahme vom universellen Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 UN-Charta darstellt. In terminologischer Abgrenzung zum Bündnisfall der Nato aus Art. 5 NATO-Vertrag wird für das Instrumentarium der Europäischen Union aus Art. 42 Abs. 7 EUV im Folgenden auf den Begriff Beistandsfall zurückgegriffen.

      BBeistandsfall (Peter Dreist) › II. NATO-Bündnisklausel

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      Zum Verständnis der Reichweite der EU-Beistandsklausel sind Umfang und Inhalt des NATO-Vertrages und der dort eingegangenen Verpflichtungen von Bedeutung. Auslöser der Bündnisverpflichtung ist nach Art. 5 des NATO-Vertrages ein bewaffneter Angriff; bei Auswahl und Umfang der staatlich festzulegenden Beistandsleistungen besteht ein Ermessensspielraum („die sie für erforderlich erachtet“).

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      Nach Art. 7 NATO-Vertrag berührt dieser nicht die Verpflichtungen der Mitglieder aus der UN-Charta; nach Art. 8 NATO-Vertrag erklären die Mitgliedstaaten, dass keine konkurrierenden internationalen Verpflichtungen bestehen, die den Bestimmungen des NATO-Vertrages widersprechen und sie verpflichten sich, keine solchen Vereinbarungen einzugehen. Art. 1 des NATO-Vertrages enthält eine Bekräftigung des Grundsatzes der friedlichen Streitbeilegung i.S.d. Art. 2 Nr. 3 der UN-Charta und Art. 3 NATO-Vertrag die Verpflichtung, die eigene und gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe zu erhalten und fortzuentwickeln.

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      Der Mechanismus, der den Bündnisfall auslöst, ist eine einstimmige Entscheidung im NATO-Rat. Einziger Anwendungsfall sind bisher die Terrorattacken in den USA am 11.9.2001, in deren Folge der NATO-Rat am 4.10.2001 den Bündnisfall erklärte.

      BBeistandsfall (Peter Dreist) › III. EU-Beistandsklausel

III. EU-Beistandsklausel

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      Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 EUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon, der am 1.12.2009 in Kraft trat, enthält die Beistandsklausel, die die EU i.R.d. GSVP zum Militär- und Beistandsbündnis macht: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.“ Sowohl Art. 42 Abs. 2 UAbs. 2 EUV als auch Art. 42 Abs. 7 UAbs. 2 EUV betonen, dass die Verpflichtungen aus Art. 42 EUV die Verpflichtungen einiger Mitgliedstaaten aus dem NATO-Verteidigungsbündnis, in dem diese ihre gemeinsame Verteidigung verwirklicht sehen, nicht berühren und beide Verpflichtungen miteinander vereinbar sind. Im Ergebnis ist anzunehmen, dass die Beistandsklausel des EU-Vertrages trotz stringenterer Formulierung auch nicht weitergeht als die Bündnisklausel des NATO-Vertrages und den Mitgliedstaaten bei Auswahl und Umfang der staatlich festzulegenden Beistandsleistungen einen Ermessensspielraum einräumt, also keinen Automatismus für den Einsatz der Streitkräfte auslöst (vgl. auch BVerfGE 123, 267 [423 f.]); die Entscheidung über den Einsatz nationaler Streitkräfte liegt weiterhin in der Hand der Mitgliedstaaten.

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      Nach Art. 42 Abs. 4 EUV sind Beschlüsse zur GSVP einstimmig vom Rat auf Vorschlag des → Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik oder Initiative eines Mitgliedstaates zu erlassen; ein formelles Beschlussverfahren für die Feststellung des Beistandsfalles ist anders als in der NATO vom EU-Vertrag nicht vorgesehen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass ein Beschluss i.S.d. Art. 42 Abs. 4 EUV im Fall der Anschläge von Paris nicht getroffen wurde; die Verteidigungsminister haben das Ersuchen Frankreichs am 17.11.2015 lediglich akzeptiert und Beistandsleistungen versprochen. Diese müssen nicht ausschließlich in der Gestellung von Militärverbänden bestehen; es ist auch möglich, die Verteidigungsbemühungen eines Staates durch entlastende Maßnahmen an anderer Stelle zu unterstützen. Deutschland beteiligt sich u.a. mit Aufklärungsflugzeugen, einem Tankflugzeug und einer Fregatte als Begleitschutz für einen französischen Flugzeugträger im Mittelmeer und angrenzenden Seegebieten direkt an der Bekämpfung des IS in Syrien. Daneben unterstützt Deutschland Frankeich indirekt durch Übernahme einer stärkeren Verantwortung in Mali, durch Ausbildung kurdischer Kämpfer im Nordirak sowie irakischer Soldaten (zuletzt: BT-Drs. 19/25 vom 25.10.2017; BT-Drs. 19/1093 vom 7.3.2018) und Bereitstellung medizinischer Soforthilfe bei eventuellen weiteren Großschadensereignissen in Frankreich (BT-Drs. 18/6866 vom 1.12.2015, S. 8 f.). Ferner unterstützt Deutschland die Bemühungen einer internationalen Staatenkoalition zur Bekämpfung des IS durch Bereitstellung von Besatzungen für NATO-AWACS-Luftraumüberwachungsflugzeuge (BT-Drs. 18/9960 vom 13.10.2016, S. 2, 7, 10; BT-Drs. 19/1093 vom 7.3.2018).

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      Auslöser der Beistandsverpflichtung des Art. 42 Abs. 7 EUV ist ein „bewaffneter Angriff“. Herkömmlich wird ein bewaffneter Angriff eines Staates mit seinen zur Durchführung von Kampfhandlungen autorisierten Organen als Auslöser des in Art. 51 UN-Charta anerkannten naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung angesehen. Im Weltbild der Autoren der UN-Charta im Jahre 1945 war dies ein Angriff von außerhalb des Zielstaates. Da die Terrorattacken in Paris von Privatpersonen begangen wurden und sich die Terrororganisation IS dazu als Urheber bekannt hat, stellen sich mehrere Fragen: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um einen privaten Angriff einem staatlichen bewaffneten, die Beistandsverpflichtung auslösenden Angriff gleichzusetzen? Kann ein derartiger Angriff auch vom Territorium des Zielstaates aus geschehen? Nach