Bernhard Kempen

Europarecht


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Anwendungsfall der Anschläge von Paris zu einem tragfähigen Ergebnis zu gelangen.

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      Ob Angriffe Privater das staatliche Selbstverteidigungsrecht auszulösen vermögen, ist umstritten. Diskutiert wurde diese Frage seit den Terroranschlägen in den USA am 11.9.2001, bei denen etwa 3000 Personen getötet wurden. Der UN-Sicherheitsrat verwies in den Präambelpassagen der Resolutionen S/RES/1368 (2001) vom 12.9.2001 und S/RES/1373 (2001) vom 28.9.2001 auf das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, ohne jedoch eine bestimmte Operation der Mitgliedstaaten zu autorisieren. Andererseits ist die Reaktion der US-geführten Koalition i.R.d. Operation Enduring Freedom vom Sicherheitsrat auch nie verurteilt worden. Der Sicherheitsrat bekräftigte, dass in jeder Handlung dieser Art eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit liege und wiederholte dies und seine Verurteilung aller Terroranschläge seitdem vielfach. Gleichzeitig verlieh er seiner Entschlossenheit Ausdruck, solche Handlungen künftig zu verhüten und betonte die Notwendigkeit, solche Bedrohungen mit allen Mitteln im Einklang mit der UN-Charta zu bekämpfen.

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      Daraus lässt sich schließen, dass der Sicherheitsrat, der über die Argumente der USA zur Urheberschaft der Anschläge ebenso informiert wurde wie über die Reaktionen darauf, jedenfalls die Anschläge in den USA als so schwerwiegend betrachtet, dass sie zur Auslösung des Selbstverteidigungsrechts in der Lage waren. Damit wird deutlich, dass Anschläge Privater einem bewaffneten Angriff eines Staates nur dann gleichkommen können, wenn sie von der Intensität und Erheblichkeit eines staatlichen Angriffs sind. Dies muss für die Anschläge von Paris bezweifelt werden.

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      Resolution 2249 (2015) vom 20.11.2015 wiederholt die genannte rechtliche Einschätzung und enthält im operativen Teil u.a. folgende Passage: „Der Sicherheitsrat […] fordert die Mitgliedstaaten, die dazu in der Lage sind, auf, unter Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen sowie der internationalen Menschenrechtsnormen, des Flüchtlingsvölkerrechts und des humanitären Völkerrechts, in dem unter der Kontrolle des ISIL, auch bekannt als Daesh, stehenden Gebiet in Syrien und Irak alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und ihre Anstrengungen zu verstärken und zu koordinieren, um terroristische Handlungen zu verhüten und zu unterbinden, die insbesondere vom ISIL, auch bekannt als Daesh, sowie von der Al-Nusra-Front und allen anderen mit Al-Qaida verbundenen Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen und anderen terroristischen Gruppen begangen werden, […]“ (S/RES/2249, op-5).

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      Der Sicherheitsrat hat in zahlreichen Resolutionen zu Terrorangriffen in allen Teilen der Welt immer wieder mit vergleichbarem Wortlaut Stellung genommen. In Resolution 2249 bezieht er sich in erster Linie auf die Lage im Irak und Syrien, auf deren Territorien bewaffnete Kampfhandlungen stattfinden; er autorisiert aber keine besondere oder neue Operation wegen der Anschläge in Paris, sondern das Vorgehen der Mitgliedstaaten gegen die genannten Terrororganisationen im Einklang mit dem ohnehin geltenden Völkerrecht. Unklar bleibt dabei allerdings weiterhin, welche Größenordnung ein Terrorangriff Privater haben muss, um das Selbstverteidigungsrecht auszulösen, wie der Zurechnungszusammenhang mit einem Staat als Verursacher zu bewerten ist und ob auch ein Angriff, der im Zielstaat geplant und durchgeführt wird, das staatliche Selbstverteidigungsrecht auslösen kann.

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      Es wird vertreten, dass es für das Auslösen der Beistandsverpflichtung des EU-Vertrags keinen Unterschied ausmache, ob ein Angriff von außen komme und mithin grenzüberschreitend sei oder vom Territorium des Zielstaates ausgehe, solange er nur einem Staat zugerechnet werden könne. Die zuvor dargelegten Bündnisklauseln beziehen sich alle auf das in Art. 51 UN-Charta anerkannte naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, das „im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“ durch die Charta nicht beeinträchtigt wird. Dieses Recht ist in den zwischenstaatlichen Beziehungen nur im Fall eines Angriffs von außen gegeben, wie auch die Aggressionsdefinition der Generalversammlung der UN (GA/RES/3314) vom 14.12.1974 zeigt. Diese rechtliche Einschätzung verdichtet sich gerade vor dem Hintergrund der rechtlich unverbindlichen Entschließung der UN-Generalversammlung mit der Einführung des gleichlautenden Aggressionsverbrechens im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und im deutschen Völkerstrafgesetzbuch zu einer rechtlich verbindlichen Norm des Strafrechts auf der Ebene des Völkerrechts und des nationalen Rechts.

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      Alle Bündnisklauseln benutzen den Wortlaut „bewaffneter Angriff“, die EU-Beistandsklausel formuliert „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates“; dabei wird ein bewaffneter Angriff gegen einen Mitgliedstaat oder „auf das Hoheitsgebiet“ durch einen anderen Staat von außen kommen. Ein bewaffneter Angriff gegen Frankreich lag also aus rechtlicher Sicht im Fall der Anschläge von Paris trotz gegenteiliger politischer Äußerungen schon deshalb nicht vor, weil er von französischem Territorium ausging und nicht von außen kam.

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      Die Diskussion um die Erforderlichkeit der Zurechnung terroristischer Aktivitäten zu einem Staat, der dann selbst als Angreifer betrachtet würde, der das staatliche Selbstverteidigungsrecht des von Terroristen angegriffenen Staates auslöst, ist seit den Anschlägen in den USA kontrovers geblieben. Nach Art. 3g der Aggressionsdefinition, kommt nur das „Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner durch einen Staat oder in seinem Namen, wenn diese mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat ausführen, die auf Grund ihrer Schwere den oben aufgeführten Handlungen gleichkommen, oder die wesentliche Beteiligung daran“ einem staatlichen bewaffneten Angriff gleich. Hat der Staat danach die lenkende und operative Tatherrschaft, kann der Terrorangriff ihm zugerechnet werden.

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      Eine Auffassung im Völkerrecht tritt dafür ein, die Handlungen von Terroristen einem Staat bereits dann zuzurechnen, wenn dieser ihnen einen sicheren Hafen gewähre und ihnen sein Staatsgebiet als Aufenthaltsort und sicheres Rückzugsgebiet willentlich zur Verfügung stelle. Diese Zurechnungskriterien, falls sie überhaupt Anerkennung finden sollten, sind im Fall der Anschläge von Paris nicht erfüllt, weil der IS im Irak und Syrien von den Regierungen bekämpft wird. Erst wenn man sich überhaupt von der Zurechnungsobligation lösen und das Selbstverteidigungsrecht unabhängig von der Zurechnung des Terrorangriffs zu einem Staat anerkennen würde, wäre es auch möglich, die Anschläge von Paris als wirksamen Auslöser des staatlichen Selbstverteidigungsrechts anzusehen.

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      Die Anschläge von Paris sind i.E. als solche kein „bewaffneter Angriff“, der das staatliche Selbstverteidigungsrecht auslöste. Sie wurden nicht von außen gegen Frankreich geführt und entstanden nicht i.S.d. Art. 3g der Aggressionsdefinition durch das staatliche „Entsenden“ bewaffneter Banden, da der „Islamische Staat“ lediglich eine Terrororganisation ist, die auf dem Staatsgebiet von Irak und Syrien durch die dortigen Regierungen bekämpft wird und den Anspruch, selbst ein Staat zu sein, bisher nicht erfüllen kann. Eine Zurechnung der Anschläge zu einem Staat i.S.d. sich im Völkerstrafrecht verdichtenden Regeln der Aggressionsdefinition ist objektiv nicht möglich, und ob auf eine solche verzichtet werden kann, ist völkerrechtlich nicht abschließend geklärt. Ebenso ist unklar, ob Intensität und Erheblichkeit dieses unzweifelhaft schweren Verbrechens bereits solche Ausmaße angenommen haben, dass sie einem staatlichen bewaffneten Angriff trotz aller anderen Umstände gleichgesetzt werden könnten.

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      Die Aktivierung der EU-Beistandsklausel durch die Anfrage Frankreichs hat zu einer Zusammenarbeit