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Theorien der Literatur VII


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Sehe-Punkt (Balkon) auf seinen vorherigen Sehe-Punkt (Schiff). Er unterstreicht mit dem Verweis auf die Sehgewohnheiten des Gastwirtes im Kontext der Reisekonjunktur („von jeher Fremde aller Nationen zu sehen gewohnt“), inwiefern es ihm um die „Gewohnheiten“ des Betrachtens geht und deren Aufbrechen durch eine literarische Perspektivänderung: nicht die Ansicht des Bereisten, sondern der perspektivische Ausgangspunkt der Ansicht selbst wird zum Gegenstand literarischer Darstellung.

      3. Giacomo Leopardi: Rückblicke des lyrischen Ich ‚im Bild‘ der Grandtouristes

      Eine ähnliche Umkehrung des Reiseblicks, die für dessen spezifisch literarische und nicht bildkünstlerische Repräsentation steht, lässt sich auch bei Giacomo Leopardi ausmachen. Mein Beispiel ist hier das Gedicht La Ginestra o il fiore del deserto, das 1836 entstanden ist und die ‚Canti‘ Leopardis in der postumen Ausgabe von 1845 beschließt. Leopardi setzt sich in diesem berühmten Canto mit dem europäischen Grand Tour und seinen literarischen Folgen auseinander, das lyrische Ich, platziert am Fuße des Vesuv, präsentiert seine andere Sicht auf die Dinge und grenzt sich dabei dialogisch von den Grandtouristes ab.1 Der Blick des lyrischen Ich am Fuße des Vesuv wird hier in ein paragonales Verhältnis zu dem von Gemälden präformierten Blick der Reisenden gesetzt.2 Das lyrische Ich setzt sich ins Bild der Vedutenmaler und erwidert ihren Blick. Es entwickelt eine wahrnehmungsästhetische und perspektivische Opposition zur europäischen Reisekultur, ein Paragone zwischen italienischer Lyrik und europäischer Vedutenmalerei.

      Das lyrische Ich des Canto positioniert sich und seine unerwiderte Rede an den Ginster bereits am Gedichtbeginn an einer der wichtigsten Stationen des Grand Tour: am Vesuv. Wie bedeutsam diese örtliche Positionierung für alles weitere ist, zeigt sich daran, dass das lyrische Ich hinter der beschreibenden Ortsbestimmung zurücktritt, indem das Gedicht mit der Lokalpräposition „Qui“ bzw. mit der adverbialen Bestimmung des Ortes einsetzt. Erst in der fünften Zeile gibt es sich durch die beginnende Du-Anrede des gelb-duftenden Ginsters implizit und in Vers 7 durch „ti vidi“ auch explizit zu erkennen:

      Qui su l’arida schiena / Del formidabil monte / Sterminator Vesevo / La qual null’altro allegra arbor né fiore, / Tuoi cespi solitari intorno spargi, Odorata ginestra, / Contenta dei deserti. Anco ti vidi / De’ tuoi steli abbellir l’erme contrade / Che cingon la cittade / La qual fu donna de’ mortali un tempo, / E del perduto impero / Par che col grave e taciturno aspetto / Faccian fede e ricordo al passeggero.3

      Bemerkenswert sind drei weitere Aspekte, die bereits hier auf den Deutungszusammenhang des Gedichtes mit der Reisekultur verweisen: Erstens und besonders deutlich die Erwähnung des „passeggero“ in Zeile 13, zweitens die Betonung des Gesichtssinns bzw. des Anblicks („ti vidi“ 7, „taciturno aspetto“ 12), und drittens der im Titel prominent vorangestellte und in Zeile 7 wiederholte Verweis auf die Wüstenhaftigkeit des Ortes („fiore del deserto“ / „contenta dei deserti“): Er assoziiert den Canto von Beginn an mit Corinne ou l’Italie (zudem weisen beide Werke die Oder-Struktur im Titel auf) bzw. mit dem berühmten Fluchtimpuls der Protagonistin Corinne beim Anblick des Vesuvs: „Cher Oswald, dit Corinne, quittons ce désert […].“4 Während Corinne und Oswald am Krater des Vesuv, Höhe- und Wendepunkt des Grand tour, die Flucht ergreifen, bleibt das lyrische Ich bei Leopardi provokativ sitzen und fordert den Betrachter ironisch auf, zum aufklärerischen Fortschrittsoptimismus angesichts dieser wenig einladenden Landschaft auf Distanz zu gehen:

      A queste piagge / Venga colui che d’esaltar con lodo / Il nostro stato ha in uso, e vegga quanto / È il gener nostro in cura / All’amante natura. […] Dipinte in queste rive / Son dell’umana gente / Le magnifiche sorti e progressive.5

      Wenn Leopardi in La Ginestra also ironisch vom in die Landschaft eingemalten Bild spricht („Dipinte in queste rive / Son dell’umana gente / Le magnifiche sorti e progressive“), so bezieht sich seine ironische Distanz nicht nur auf die Deutung des Bildes (als Gegenbeweis aufklärerisch fortschrittsverheißenden Optimismus‘), sondern auch auf Bildevokationsverfahren der Reiseliteratur, für das Goethes Italienische Reise steht.

      Das lyrische Ich und der Ginster sind im Vergleich mit dem Reisenden durch einen anderen Blick und ein anderes Raumverhältnis gekennzeichnet. So erblickt das lyrische Ich am Vesuv nichts Unbekanntes, sondern erlebt ein Wiedersehen mit dem Ginster (Or ti riveggo, 14), und die das Gedicht von Beginn an prägende Dialogform betont diese die Fremderfahrung des Reisenden konterkarierende Vertrautheit. Das ‚Sitzen‘ des Ginster („tu siedi, o fior gentile“, 34) und das wiederholte standortfixierende „Qui“ (1, 42, 52) stehen der Reisebewegung gegenüber („i passi del peregrin“, 20). Während die Reiseberichte topisch die Einmaligkeit und Exklusivität des Vesuv-Erlebnisses hervorheben, betont La Ginestra das Vesuv-Erlebnis als Gewohnheit, die nicht mit Bewegung im Sinne von Reisen oder Besteigen verbunden ist, sondern mit dem unbeweglichen Sitzen auf vertrautem Boden: „Sovente in queste rive […] seggo la notte“.6 Damit setzt sich das lyrische Ich im wörtlichen Sinne ‚ins Bild’: Es platziert sich in demjenigen Landschaftsgemälde des Vesuv, das in den literarischen Reiseberichten geradezu topisch von einem Fenster gerahmt wurde.7 Die demonstrative Sesshaftigkeit des lyrischen Ich im Landschaftsbild der Reiseberichte konterkariert damit die Weltsicht, die Beschreibungsästhetik und die Landschaftswahrnehmung der Fahrenden: „Il suol ch’io premo“8 bietet stattdessen den Erkenntnisgewinn und bezeichnet den unbewegten Perspektivpunkt auf die Dinge. Dass Leopardi diese den Reiseblick umkehrende Sitz-Position nicht im privilegierten literarischen Format der Reisekultur – im von Prosa dominierten Genre Reiseroman oder Reisebericht – verortet, sondern dem lyrischen Ich eines Canto zuschreibt, ist als ein zusätzliches Plädoyer im Kontext des Paragone-Diskurses zu werten.

      4. Émile Zola: Manets Porträt und das literarische Porträtiertwerden

      Auch für Émile Zola scheint das Spezifikum der Literatur im Potential der perspektivischen Umkehrung zu liegen. Vordergründig ist in seinen Ausführungen im Salon de 1876 eine Eloge des Malers Manet zu lesen, die jedes Wettstreit-Gedankens entbehrt. Er preist den von den Zeitgenossen verachteten Maler als einen der wenigen, die dem bürgerlichen Zeitgeist nicht folgen – einem Zeitgeist, der versucht, die Photographie zum Maßstab aller Dinge zu machen und die Maler dazu verführt, mit Mitteln der Malerei kunstvergessen der Photographie nachzueifern. So schreibt Zola:

      Abb. 1: Gustave Caillebotte (1848–1894): Les raboteurs de parquet. 1875. Öl auf Leinwand. H. 102; L. 146.5 cm. © RMN-Grand Palais (Musée d‘Orsay).

      Caillebotte a exposé Les Raboteurs de parquet et Un jeune homme à sa fenêtre, d’un relief étonnant. Seulement, c’est une peinture tout à fait anti-artistique, une peinture claire comme le verre, bourgeoise, à force d’exactitude. La photographie de la réalité, lorsqu’elle n’est pas rehaussée par l’empreinte originale du talent artistique, est une chose pitoyable. (Émile Zola, Salon de 1876).1

      Armselig ist eine photographische Malerei, die nicht erhoben wird durch den einzigartigen Abdruck, den künstlerisches Talent zu hinterlassen vermag. Als einer der Wenigen ergreift er für Manets Kunst Partei – und Manet bedankt sich bei seinem Fürsprecher mit einem Porträt.2 Dieses Porträt wiederum nimmt Zola zum Anlass einer Bildbeschreibung,3 die vordergründig nichts darüber verrät, was Literatur vermag und wie ihre Position im Paragone der Künste einzuschätzen ist. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Zola hier einerseits Manet als herausragenden naturalistischen Künstler ehrt, zugleich aber auch klarstellt, dass die naturalistische Malerei an die naturalistische Literatur nicht heranreichen kann.4 Manet reflektierte selbst über die Grenzen ‚seiner‘ Kunst5 – Zola hätte diese Grenzen offensichtlich gerne noch enger gezogen und kritisierte bereits im Jahr 1866: „Nos artistes sont des poètes. C‘est là une grave injure.“ Entsprechend ist sein Lobpreis Manets mit Vorsicht zu genießen – es währte ohnehin nur so lange, wie Manet der naturalistischen Ideologie zu folgen schien und wurde hart widerrufen, als Manet sich später dem Impressionismus zuwandte.6 Die Doppelbödigkeit seines Zuspruchs zeigte sich auch in seiner ‚Danksagung‘