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Theorien der Literatur VII


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Einbindung des Sujets für die druckgraphische Publikation legt die Vermutung nahe, dass Merian die Kampfszene kaum auf der Grundlage eigener Beobachtungen gezeichnet haben dürfte.3

      Auch der Text von Merians Publikation erwähnt den Kampf nicht, sondern beschreibt den Kaiman in allgemeinen Zügen und geht kaum über jene Erkenntnisse hinaus, die bereits auf den Flugblättern des 16. Jahrhunderts über Krokodile verbreitet wurden. Dies gilt besonders für die Beschreibung des Tiers als Marodeur: Es handle sich um Krokodile, die von den Indianern „Caymans“ genannt würden, sie seien große, sehr kräftige und gefährliche Raubtiere und lebten zu Wasser wie zu Lande. Unvorstellbar sei ihr Wachstum, da sie aus kleinen Eiern schlüpften und ihre ursprüngliche Größe in kurzer Zeit um ein Vielfaches überträfen. Zweimal geht Merian auf die Schuppenpanzerung der Tiere ein: „Vorne der Oberkörper und der Schwanz sind stark geschuppt und so hart, dass sie unverletzbar sind. […] wenn sie sich mit ihren Körpern wenden und kehren könnten, würde ihnen nichts entkommen.“4

      Damit widerspricht der Text deutlich den übersteigerten Windungen, in denen Merian den Kaiman zeichnete. Sie entsprechen als Fortführung der Schlangenschwanz-Tradition allerdings den gestalterischen Prinzipien von Merians Darstellungen exotischer Flora und Fauna, die, wie Susan Owens darlegte, auf Spiralformen beruhen und zur Steigerung ihrer Wirkung auch den Bildrand sprengen können.5

      Merians Bild sollte für die Vorstellung von Kaimanen in Europa umso prägender bleiben, als es noch 1797 als Vorlage für eine Illustration der dritten Auflage der Encyclopædia Britannica diente. Diese zeigt schautafelhaft acht Echsen, von denen dem Kaiman im unteren Bilddrittel der meiste Raum zukommt; er ist auch als einzige Art zweifach vertreten, da ihm das schlüpfende Jungtier aus Merians Stich hinzugefügt wurde. Eine Irritation geht davon aus, dass der zuständige Kupferstecher Andrew Bell Merians Kaiman zwar recht präzise kopierte, dessen gewundene Haltung aber durch den Verzicht auf die Korallenschlange um ihren Zusammenhang brachte.

      Das Rokoko-Krokodil par excellence stach jedoch Jacobus Houbraken für Albert Sebas Thesaurus, dem visuellen Kompendium zu einer der größten Naturaliensammlungen der Zeit. Noch rigoroser als bei Merian sind die Seiten dieser vier zwischen 1734 und 1765 erschienenen Bände nach dem Prinzip symmetrischer Spiralen organisiert, die insbesondere die zahlreichen Schlangen wie schleichende Rocailles aussehen lassen. Selbst ein Alligator, den Seba wie die meisten seiner Stücke direkt von den Landungsplätzen der Ost- und Westindischen Handelskompanien in Amsterdam in Empfang genommen haben mag, muss sich diesen Stilvorgaben fügen.6 In zwei gegenläufigen Windungen, den Schwanz zur Spirale gerollt, pirscht er wie eine angespannte Feder über die Bildfläche, auf eine Eidechse lauernd, die ihrerseits noch rasch den Schwanz zum heraldischen Ornament schwingt, ehe sie das Weite sucht.

      Bereits 1753 veröffentlichte der Verlag der Homannschen Erben in Nürnberg eine Kopie nach Sebas Bild in einer Reihe einzelner Kupferstiche mit zoologischen Sammeldarstellungen, die den Atlanten des Verlags beigefügt werden konnten.7 Es verdichtet den gefährlichen Eindruck der Vorlage noch dadurch, dass der Bildraum durch eine Linie gerahmt ist, die das Krokodil zweifach übertritt und so als Trompe-l’oeil erscheint. Diese Augentäuschung erscheint umso vielschichtiger, als das Blatt als Bildträger durch zahlreiche Inschriften bestätigt scheint, die in Kartuschen hervorgehoben sind, aber auch in Angleichung an die Bewegung des Reptils erscheinen, so unter seiner linken Hand. Sie beinhalten nach dem Vorbild der klassischen Naturgeschichte Informationen zur Nomemklatur, zu Färbung und anderen Merkmalen sowie zum Verhalten (nicht zuletzt wird auch hier wieder auf das immense Wachstum der aus kleinen Eiern schlüpfenden Tiere hingewiesen). Allerdings deutet sich dabei eine Entzauberung der Darstellung an, denn eine Anmerkung rechts oben verrät – wohl kaum im ästhetischen Sinne Sebas –, das Krokodil sei „hier nur wegen Enge des Raums gekrümmt.“8 Die Krokodildarstellungen Merians und Sebas wurden noch bis Ende des 18. Jahrhunderts in populären Naturkunden nachgedruckt. Unter den sprunghaften Kenntnisgewinnen dieser Zeit wich jedoch die Stilisierung der Tiere einer rationaleren Darstellungsform.

      10. Vom Naturalienkabinett zum Aquarium

      Die hier vorgestellte Motivgeschichte vermag vielleicht zwei Überlegungen zu verdeutlichen:

      1 Nicht zuletzt wegen ihres Status als potentielle Menschenfresser erregten Krokodile in der frühneuzeitlichen Naturgeschichte besondere Aufmerksamkeit. Wegen ihrer Größe und bizarren Erscheinung kam ihnen nicht nur ein zentraler Status in den Naturaliensammlungen zu; ihr Gefahrenpotential motivierte auch die Stilisierung ihrer Darstellung in Anlehnung an die traditionelle Drachen-Ikonographie. Windungen, Drehungen und Rollen vermittelten, von der Kunsttheorie der Spätrenaissance forciert, als kompositorische Formel einen Sinngehalt von Aggression und Tücke und wurden den Darstellungen auch dann aufgezwungen, wenn sie von der eigenen Beobachtung der Künstler – von Reuwich bis Merian – nicht bestätigt worden sein konnten. Besonders deutlich wird diese Stilisierung, wenn Präparate manipuliert wurden, um dem Stereotyp mit schlängelnden und gerollten Schwänzen gerecht zu werden.

      2 Mit dieser bildlichen Stilisierung ging eine Verklärung der Tiere einher. Zwar hatten prominente Naturforscher wie Konrad Gessner in ihren Publikationen eine generelle Trennung von empirischer Beobachtung und literarischer Zuschreibung angestrebt und damit insbesondere der Naturallegorese mittelalterlicher Tradition Einhalt geboten. Zugleich entwickelte jedoch die humanistische Emblematik neue uneigentliche Lesarten der Natur in Orientierung an antiken Vorbildern. Krokodile konnten dabei etwa als Alteritätszeichen in der Darstellung außereuropäischer Kulturen dienen, wurden aber auch weiterhin – insbesondere auf populärer Ebene – mit Drachen identifiziert, um in dieser Rolle etwa städtische Gründungslegenden zu vergegenwärtigen.

      In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brachen die Bedingungen der traditionellen Naturgeschichte in sich zusammen. Methodisch ließ die Neuorganisation der Taxonomie durch Carl von Linné das Paradigma des Kuriosen obsolet erscheinen. Gesellschaftlich büßten die typischen Sammlungsstücke durch zunehmende Verfügbarkeit ihren Rang als Distinktionsmerkmal ein; dies umso mehr, als das vormals überwiegend elitär verhandelte Wissen über Tiere, Pflanzen und Mineralien zunehmend in illustrierten Enzyklopädien und populären Naturkunden verbreitet wurde. Manifest wurde die Popularisierung der Naturgeschichte mit der Gründung öffentlicher botanischer und zoologischer Gärten, deren bildhafte Arrangements einheimischer und exotischer Tiere und Pflanzen die frühneuzeitliche Vorgeschichte wie Fieberträume der Naturalienkämmerer reflektierten.1

      Als ein spätes Beispiel feiert eine 1913 im neu eröffneten Berliner Aquarium entstandene Photographie den bürgerlichen Triumph über die ungezähmte Natur der kolonialisierten Welt. Das Bild zeigt die Krokodilhalle, die das Kernstück des Gebäudes bildete, im Aufriss. Auf einer die Anlage überspannenden Holzbrücke hat sich eine Besuchergruppe versammelt, darunter liegen nicht weniger als zwölf Krokodile auf der Nachbildung von Ufern, deren exotischer Eindruck durch die seitliche Bepflanzung mit Tropenbäumen verstärkt wird.

      Kompositorisch wirkt die Aufnahme beinahe, als sei ein Frontispiz jener Renaissance-Sammlungen auf den Kopf gestellt worden, auf denen Krokodilpräparate den Raum als zentrale Stücke dominierten. Die Besucher zeichnen sich hingegen nicht länger als Mitglieder der sozialen Elite aus, die auf ihren Bildungsreisen exklusive Einblicke in die Baupläne der Schöpfung erhalten, sondern erfahren – in Kleidern, Fräcken und Hüten bürgerlich uniformiert – den sublimen Immersionseffekt der Anlage, der sie an der Grenze zu Charlottenburg in tiefe Wildnis zu verschlagen scheint: Auge in Auge mit den Menschenfressern, doch über sie erhaben. Rund einhundert Jahre später mutet die Aufnahme allenfalls dahingehend antiquiert an, dass Zoobesucher heute eher Funktionsjacken als Fräcke tragen. Über den Nutzen, exotische Raubtiere unter künstlichen Bedingungen zur Schau zu stellen, ließe sich freilich streiten.

      Abb. 7: Die Krokodilhalle des Berliner Aquariums

      Literaturverzeichnis

      Primärliteratur

      Forer, Conrad (Hg.): Gesnerus redivivus auctus & emendatus, oder: Allgemeines Thier-Buch. Eigentliche und lebendige Abbildung aller vierfüssigen,