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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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zu zeigen versuchten, auf einer Schule der Urteilskraft, ebenso wie dieser Gewinn von Erfahrenheit aus Erfahrungen durch eine Schule der Vernunft und der Sensibilität erreicht wird. Ohne moralische Erfahrung tritt die Vernunft gleichsam auf der Stelle. Erfahrenheit bringt sie dorthin, wo sie ihre Kraft entfalten kann. Argumente ohne Erfahrung haben Gründe, aber keinen Grund und Boden. Erfahrung freilich ohne vernünftige Überlegung und ohne die Anstrengung plausibler Argumente wäre blind, aber Vernunft ohne moralische Erfahrung wäre leer.

      Da moralische Erfahrungen praktisch sind, d.h. den Menschen existentiell und in all seinem Tun betreffen, kann man auch sagen, dass eine erfahrungsbezogene Ethik nicht rein theoretisch sein kann. Da sie mit der Lebenspraxis und mit vielen moralrelevanten Erfahrungen in dieser unlösbar verbunden ist, gilt für Ethik-Lehrer und Lehrerinnen der Satz: Wer nicht so lebt, wie er lehrt, wird bald so lehren, wie er lebt.

      Das Programm „moralische Bildung“ ist dabei eine Bildung ohne Einbahnstraße. Bildung ist nicht eine abrufbare intellektuelle Demonstration, sondern ein dauerhaftes Reservoir mit fortbestehender Offenheit. Der Weg der Erfahrung zur Erfahrenheit als Weg der Bildung, von dem ich ausging, ist ein Weg der Habitualisierung. Moralische Bildung ist ein Phänomen der „Erfahrenheit“. Sie entsteht aus dem wiederholten Durchlaufen von Erkenntnisgewinn. Aber wodurch wird dieser Gewinn so erzielt, dass er mehr ist als ein abrufbarer kenntnisreicher Bewusstseinsinhalt? Moralische Identität bildet sich auf dem Rücken von Handlungen. Was der Mensch tut, wirkt auf ihn zurück und bildet ihn. Lernen ist auch ein Tun – aber in der hier gemeinten Bildung kommt es nicht auf das äußere Ergebnis, eine Benotung, eine Publikation, einen Gewinn von Ansehen, an, sondern auf die innere Veränderung der Person. Dazu gehört auch Lernen durch Lesen. Ich habe viel über narrative Ethik, auch über Literaturethik geschrieben. Dazu liegen einige Arbeiten vor, auch die glänzende Disseration von Regina Ammicht-Quinn, die Literatur-Interpretation mit der theologischen Theodizeefrage verbindet und m.E. immer noch das Beste ist, was man darüber lesen kann. Daraus ist fast eine kleine Schule entstanden. Man kann sich durch Hören von Erzählungen und durch Lesen von (qualitativer) Literatur verändern. Paul Ricoeur hat dafür den Dreischritt: „préfiguration – configuration – refiguration“ vorgeschlagen (Ricoeur 1966: 173–206). Freilich geht es nicht, worauf ich oft aufmerksam gemacht habe, um den unmittelbaren Gewinn von eindeutigen Bewertungen, von Normen oder von Tugenden, sondern um einen Gewinn moralischer Auseinandersetzung und Identitätsbildung durch „Modelle“, die strittig bleiben dürfen, und deren Fragen an uns selbst zur moralischen Nachdenklichkeit anhalten. Wir werden nämlich moralisch verunsichert – das ist der Sinn einer Bildung, die keine Ausbildung ist, sondern „Einbildung“ im alten Sinne von: Bildung in den Menschen. Leider ist das Wort „eingebildet“ tief von der Kanzel des Predigers Meister Eckhart heruntergefallen und im üblichen Sprachgebrauch zum negativ bewertenden Wort geworden.

      Am Anfang dieses innerlichen Weges zur Herausbildung von moralischer Erfahrenheit steht nicht ein Suchen nach Rezepten. „Aufgefunden“ wird ein emphatischer, wenn auch ungesicherter Zustand, eine moralische „Befindlichkeit.“ Aus dieser Ursprungserfahrung geht ein neu verortetes Selbst hervor, das kontingent-leiblich bleibt, aber gerade darin den Wegweiser von sich weg findet. Daraus wiederum ergibt sich eine Lebensführung im Sinne eines Woraus statt eines Woraufhin und eines Worumwillen als (überholende, transzendierende) Kritik der von Zielen angezogenen nur vorausplanenden Vernunft, bei der die Ethik nur hinterherhinken kann. Ethik fragt dann nicht: Sollen wir das tun? Sie fragt nur noch: Wenn wir das nach den Plänen des sogenannten Fortschrittes tun, wie können wir für die Probleme, die daraus entstehen, abwägende Problemlösungen finden? Es gibt dann Ethik nur noch konsekutiv – eine präventive Ethik hat abgedankt.

      Ich schlage vor, der teleologischen Ethik im Nachhinein, die ich als „nachhinkende“ Ethik verstehe, etwa im Sinn von Autoren wie Hans Jonas und Erich Fromm eine Ethik der Voraussicht aus Erfahrenheit an die Seite zu stellen. Warum das wichtig ist, ist leicht mit Beispielen zu erläutern: Nehmen wir dazu aus den letzten Jahrzehnten die Debatte um die Atom-Energie und die Patentierung. Voraussicht aus Erfahrenheit stärkt aber auch Themen wie gerechte „Wasser-Verteilung“, moralisch angenommene Migrationskultur oder religiös gestützte Gewalt.

      2. Inszenierung moralischer Bildung?

      Ebenso wie ich Bildung als den Weg von Erfahrung zu Erfahrenheit auf einem narrativen Wege beschrieben habe, gilt es, „Bildung“ mit Reflexion, hier im Sinne permanenter Nachdenklichkeit, zu verbinden. Wer reflektieren lernen will, nimmt an einer Inszenierung von Reflexion teil, die er unter vorfindlichen Inszenierungen auswählt und dann selbst übernimmt. In meiner Teilnahme an einer Inszenierung von moralischer Bildung bin ich an erster Stelle der Literatur begegnet. Es gab ja noch keine visuellen Unterhaltungsmedien – Lesen war die Inszenierung von Bildung. Man sucht auch lebende Vorbilder für diese Inszenierung.

      Die Inszenierung moralischer Bildung konnte ich an großer Literatur später auch akademisch durchführen: am Beispiel von Thomas Manns Joseph-Romanen – eine Inszenierung gegen die nationalsozialistische Mythologie – und anhand des „Tristan“ des Gottfried von Straßburg – eine mit ambivalenten Zügen ausgestattete Inszenierung der Liebe gegen Zwangsinstitutionen. Inszenierung ist immer ästhetische Formgebung, die sich moralischer Eindeutigkeit entzieht, aber eben deshalb zur Reflexion aufruft statt zu indoktrinieren. Das „Theater als moralische Anstalt“, wie es Friedrich Schiller vorschwebte, ist ja auf seinem Höhepunkt, der klassisch mit dem „Wallenstein“ erreicht ist, eine Aufforderung zum Nachdenken und zum Gewinn einer eigenen moralischen Stellungnahme. Die schlichte Identifikation mit Figuren, die die Moral zu tragen haben, wird bewusst konterkariert. Moralische Nachdenklichkeit, Reflexion, soll entstehen. Der Züricher Germanist Peter von Matt hat dies in eindrücklichen Essays zur Literatur zum Thema gemacht.1

      Aber die Frage bleibt: Ist eine an Erzählung gebildete Schulung moralischer Identität ausreichend? Kann sie nicht im Bereich des beliebigen moralischen Genusses verbleiben? Moral ist spannend als Lektüre. Sie hinterlässt keine Eindeutigkeit – das ist gut für die Reflexion, kann aber auch wie ein Theaterbesuch oder als sonntägliche Predigt folgenlos bleiben. Der kathartische Effekt gehört zur kulturellen Inszenierung eines Selbstgefühls im Bereich gehobener Stimmung. Man fühlt sich besser und erspart sich die Konsequenzen. Die ästhetischen Inszenierer haben dies längst erkannt, aber, wie schon Bertolt Brecht feststellte: das Entsorgungspotenzial der Rezipienten ist beinahe unendlich. Wie kann man mit der moralischen Bildung noch näher an die moralischen Identitäten heranrücken? Oder sollte man das besser lassen, weil es sonst auf moralische Indoktrination hinausläuft? Das wäre so eine Art Klosterschule der Moral, eine Kadettenanstalt, ein vorkonziliares Priesterseminar oder eine besondere Anhänglichkeit an ein moralisches Vorbild, das nicht strittig ist (der Dalai Lama, der die Moral über die Religion stellt?). Ist den Grenzen der Narrativität nicht zu entkommen, es sei denn um den Preis des Autonomie-Verlustes und der Indoktrination? Diese Frage zu stellen, heißt, nach praktischen Einübungen zu suchen, die autonome Selbständerungen ermöglichen.

      3. Moralische Übungen für eine gefestigte autonome Ethik?1

      Die Person des Ethikers oder der Ethikerin bedarf argumentativer Übung. Man muss nicht so weit gehen, wie die Rhetorik-Schule eines Cicero, in welcher die angewandten rhetorischen Mittel gegenüber dem Gehalt in eine Vorzugstellung zu geraten drohen. Aber eine ethische Scholastik im Sinne einer Kenntnis logischer Argumentationsfiguren und möglicher Fehlschlüsse ist zugleich eine moralische Übung, denn sie erzeugt argumentative Standfestigkeit. Diese Standfestigkeit ist jedoch noch mehr: der Mut, auch mit einer argumentativen Meinung allein stehen zu können, wenn ein Druck von Mehrheiten entsteht und isolierend wirkt. Mut verlangt auch eine emotionale Festigkeit, den Widerstand bei numerischer Unterlegenheit. Die Institution von Minderheitenvoten in Ethik-Kommissionen versucht dies zu stützen, nimmt aber nicht jedem einzelnen den Druck. Die Besetzungspraxis einer lobbyistischen Beschickung kann ohnehin dazu führen, dass Mut erforderlich wird: innerhalb wie außerhalb. Courage ist bei Unterlegenheit eher erforderlich, vor allem dann, wenn diese numerische Unterlegenheit als nicht veränderbar erscheint. Von dem evangelischen Theologen Reinhold Niebuhr stammt die in Gebetsform gefasste Haltung: Man solle mit Heiterkeit (oder mit Gelassenheit) ertragen, was nicht zu ändern sei, mit Mut das angehen, was geändert