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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik


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Straßenbahn besser eine einzelne als fünf Personen überfahren lassen sollte, dass man hinter dem Schleier des Nichtwissens von der eigenen sozialen Position abstrahieren muss etc. – weil die „Zähmung“ nicht in Bezug zur eigenen Lebens- oder Arbeitswelt gesetzt werden kann. Alsbald sich dies jedoch ändert und Ethik, welche Weltkontakt sucht, plötzlich persönliche Relevanz erhält, setzen sich „Zähmungsversuche“ nicht nur dem Verdacht aus, paternalistisch zu sein, sondern sie sehen sich gleichzeitig einer extremen Ablehnungs- und Verteidigungsbereitschaft entgegengestellt. Anders sieht es aus im Falle der „Verwilderung“, mit welcher, wie oben angesprochen, eine angewandte Ethik, welche gezielt Weltkontakt pflegt, in Verbindung gesetzt werden kann. Hier geht es nicht mehr darum, Restriktionen gegenüber solchen Handlungszusammenhängen aussprechen zu können, welche als moralisch falsch erachtet werden. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Wissen, um das Hinweisen auf blinde Flecken, um bloße Aufmerksamkeitsverschiebungen, mit dem Effekt, Handlungsfreiheit gerade nicht zu senken, sondern zu steigern. Es geht um die Ausweitung von Autonomie, um die persönliche Weiterentwicklung, um die Aneignung von Eigenverantwortlichkeit.

      Während „Zähmung“ ethische Fremdbestimmung meint, strebt eine an „Verwilderung“ orientierte Ethik die Befähigung von moralischen Akteuren an, moralisch relevante Entscheidungen auf der Grundlage von umfassendem Wissen und Einfühlungsvermögen selbstverantwortlich zu treffen. Sie erkennt, geschult durch ihre Bereitschaft, als Beobachterin erster Ordnung soziale Praxis wahrzunehmen, dass diese durchsetzt ist von versteckten Glaubens-, Überzeugungs- und Wertsystemen, welche es nicht allein gilt, manifest zu machen, sondern überdies zu reflektieren. Ethik, so könnte man meinen, wäre daher gleichsam ein Geschäft sozialer Superbeobachter, welche, ähnlich Künstlern, „merken, was die meisten anderen Menschen nicht merken […]“ (Rorty 1989: 257–258). So schreibt auch Adorno:

      An denen, die das unverdiente Glück hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen – ein Glück, das sie im Verhältnis zur Umwelt oft genug zu büßen haben –, ist es, mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen oder sich aus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten. (Adorno 1966: 49)

      Doch eine Ethik des Weltkontakts und der „Verwilderung“, so sehr sie auch auf die Emphase Einzelner angewiesen sein mag, sollte stets nach der Ausweitung ihrer selbst streben. Das Projekt der ethischen „Verwilderung“ bedarf keiner kleinen Klasse an Superbeobachtern, welche Gesellschaft vermeintlich von außen wahrnehmen können. Zwar geht es tatsächlich um die Erlangung einer gewissen Distanz zu sozial eingespielten Handlungsroutinen und Deutungsmustern, allerdings darf diese Distanz nicht missverstanden werden als vollständige Aufkündigung der eigenen Gebundenheit an einen bestimmten sozialen Ort, an eine bestimmte soziale Formatierung. Eine Ethik, welche gezielt solche Reflexionen tätigt, welche explizit Relevanz für bestimmte soziale Praxisfelder aufweisen, ist sich dieser Abhängigkeiten bewusst – und strebt dennoch an, das Prinzip der „Verwilderung“ ebenfalls auf sich selbst anzuwenden. Schließlich kann sie dabei umso mehr jene Abhängigkeiten in den Blick nehmen, je mehr sie Weltkontakt sucht.

      Literatur

      Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

      Bourdieu, Pierre (2009). Das Elend der Welt. Stuttgart: UTB.

      Carruthers, Peter (2014). Warum Tiere moralisch nicht zählen. In: Schmitz, Friederike (Hg.): Tierethik. Berlin: Suhrkamp, 219–242.

      Doris, John M./Stich, Stephen P. (2005). As a Matter of Fact. Empirical Perspectives on Ethics. In: Jackson, Frank/Smith, Michael (Eds.): The Oxford Handbook of Contemporary Philosophy. New York: Oxford University Press, 114–154.

      Heinrichs, Bert (2008). Zum Beispiel. Über den methodologischen Stellenwert von Fallbeispielen in der Angewandten Ethik. Ethik in der Medizin 20 (1): 40–52.

      Höffe, Otfried (2013). Ethik. Eine Einführung. München: C.H. Beck.

      Luhmann, Niklas (2008). Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a.M: Suhrkamp.

      Luke, Brian (1995). Taming ourselves or going feral? Toward a nonpatriarchal metaethic of animal liberation. In: Adams, Carol J./Donovan, Josephine (Eds.) Animals & Women. Feminist Theoretical Explorations. Durham: Duke University Press, 290–319.

      Rorty, Richard (1989). Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

      Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? Möglichkeiten zur Auflösung einer räumlichen Metapher

      Philipp Richter

      Die „Ethik in den Wissenschaften“ ist seit mindestens 1985 Programm an der Universität Tübingen. In einem Gesprächskreis ging es von Anfang an darum, in interdisziplinärer Konstellation „ethische Fragen zu besprechen, die sich in und mit Bezug auf die Wissenschaften stellen“ (Potthast/Ammicht Quinn 2015: 9). 1990 wurde das „Zentrum für Ethik in den Wissenschaften“ gegründet, das im vergangenen Jahr sein 25jähriges Jubiläum feierte. Mit Gründung des Zentrums erfolgte zudem die Einrichtung der Lehrstühle „Ethik in den Biowissenschaften“ und „Ethik in der Medizin“ (ebd.). Darüber hinaus wurden von 1991–2001 im Rahmen des Graduiertenkollegs „Ethik in den Wissenschaften“ zahlreiche weitere Projekte im Feld der anwendungsbezogenen Ethik durchgeführt. Wichtige Impulse für Lehre und Forschung in der anwendungsbezogenen Ethik gehen von den Mitarbeitenden des Ethikzentrums aus, wie die zahlreichen Projekte und Publikationen zeigen; nicht zuletzt ist das die Entwicklung eines Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums für die Universitäten in Baden-Württemberg (siehe Maring 2005). Das Programm einer „Ethik in den Wissenschaften“ hat sich also institutionell etabliert.

      Doch warum enthält das Programm gerade diese womöglich etwas sperrige Formulierung? Weshalb lautet der Titel nicht vielmehr „Angewandte Ethik“ bzw. „Anwendungsbezogene Ethik“, „Wissenschaftsethik“, „Ethische Fragen der Einzelwissenschaften“ oder „Ethik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“? Nein – diese Vorschläge scheinen nicht zu treffen, was hier eigentlich gemeint ist. Vielmehr ist die Verwendung der Präposition „in“ entscheidend.1 Ihre metaphorische Verwendung hat sich im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verdichtet, der dabei verschiedene Bedeutungsdimensionen vereint. Um die Auflösungsmöglichkeiten der Metapher, also um eine Klärung des Programms und das Aufdecken seiner begrifflichen Spannungen soll es im Folgenden gehen. Damit will ich weitere Perspektiven für die methodologische Reflexion des ethischen Nachdenkens unter „Anwendungsbedingungen“ eröffnen. Denn bekanntlich sind die Bezeichnung, der Begriff, die Methode und Zielsetzung einer „Angewandten Ethik“ in der Diskussion heftig umstritten (Überblick in: Richter 2015; siehe Gehring 2015: 27–32; Hubig 2015: 193–205; Kaminsky 2005; Wolf 1994: 187f.), obwohl freilich in der Forschungspraxis unter diesem Titel methodisch überzeugende und erkenntnisreiche Projekte durchgeführt werden. Aber nicht jede Aktivität, die Anspruch macht, „Ethik“ zu sein, ist ohne weiteres als solche zu bezeichnen. Hier müssten methodische Standards gesichert und auch die Leistung und Grenzen des Faches „philosophische Ethik“ klarer benannt werden. Wie z.B. lässt sich das philosophisch fundierte Nachdenken über moralische Urteile und gelebte Normen und Werte, also das ethische Reflektieren im engeren Sinne, in der Praxis von anderen Formen des Nachdenkens unterscheiden? Das Titelwort „Ethik“ steht jenseits des selbstzweckhaft betriebenen akademischen Faches – also auch als Ethik „in“ den Wissenschaften – häufig unter dem Verdacht der unbegründeten Moralisierung und Bevormundung, der politischen Akzeptanzbeschaffung oder des „Etikettenschwindels“ zur Verschleierung eigentlich strategischer Interessen (siehe Dietrich 2007: 111f.; Gehring 2015: 37–39; Poscher 2013: 437f.).

      Zur Klärung der Frage, was „Ethik in den Wissenschaften“ als eine Ethik unter „Anwendungsbedingungen“ ausmacht, ist es hilfreich, die Metaphorik des Topos genauer zu betrachten, um diese dann exemplarisch mit programmatischen Texten des Ethikzentrums, die hierzu konzeptuelle Überlegungen anstellen, in ein Verhältnis zu setzen. Das Ethikprogramm des IZEW wird vor allem mit Metaphern des Räumlichen gefasst (vgl. IZEW 2010: 4f.; siehe Hasenclever 1992: 28;