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Grenze als Erfahrung und Diskurs


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Objekt, den man einen „amtlichen Fall“ nennt,77 einen „Niemand“,78 einen „Irrtum“,79 einen „Witz“.80 Der Autor variiert die sprachlichen pronominalen Negationen für die Auslöschung des Subjekts. Der abwertenden Semantik der Entwürdigung korrespondiert die Semantik der Aufwertung, wenn der Protagonist von anderen ein „Engel“ genannt wird.81 Der „Ausgewiesene“82 ist ein „Fachmann in puncto Ungerechtigkeit“,83 denn er ist nicht etwa ein Verbrecher, sondern bloß ein 50 Jahre alter Drogist, dem das „Unglück“ des Bankrotts widerfahren ist. Unfähig zu kriminellem Handeln – er versäumt es, die Regierungschefs, in deren heimliches Treffen er zufällig hineingerät, zum Zweck einer Einreiseerlaubnis zu erpressen –,84 zeichnet er sich im Gegenteil durch Höflichkeit, Bildung und Einfühlung aus.85 Seine rhetorische Begabung, sein Einfallsreichtum („Idee“)86 und seine Anteilnahme behaupten die Subjekthaftigkeit der Figur gegen ihren Objektstatus, seine Flexibilität – er übernimmt Kurierdienste für Eva und Konstantin und bezeichnet sich als „wanderndes Billetdoux“87 –, seine Zähigkeit – er gibt nicht auf – und Handlungsfähigkeit – er befreit Konstantin und Eva – qualifizieren ihn sogar dazu, „unser aller Retter“ zu sein,88 seine Großzügigkeit – er überlässt Konstantin die Hälfte des Kopfgeldes für die Festnahme der Schmuggler – beschämt. Der Staatenlose ist ein „braver Mann“,89 mit einem Wort: gesetzlicher und individueller Status widersprechen sich. Eingebettet in eine achsensymmetrisch angeordnete Figurenkonstellation – auf jeder Seite agieren Grenzorgan, Regierungschef und weibliche Figur –, führt das Spiel die Handlung in Parallelen und Spiegelungen vor: Die Grenzüberschreitung hat im Falle der Schmuggler einen kriminellen Beweggrund, im Falle des Staatenlosen einen existentiellen. Der Konfrontation der ausführenden Grenzorgane steht der Versuch einer diplomatischen Annäherung der politisch Verantwortlichen gegenüber. Die Konfrontation der Grenzorgane wird unterlaufen durch die Liebesverbindung von Eva, der Tochter des Grenzers Thomas Szamek zur Linken, und Konstantin, dem Grenzer zur Rechten. So wie Eva zwischen Vater und Geliebtem steht, steht Havlicek zwischen zwei Staaten. Zwei Konflikte, ein privater und ein politischer: Liebes- und Landeszugehörigkeit, werden also übereinander geschoben. Zugleich repräsentieren die weiblichen Figuren im Verhältnis zu den männlichen ein gender-spezifisches Motiv: Der den Männern eigenen Antipathie und Gleichgültigkeit für den Protagonisten stehen Sympathie und Mitgefühl der Frauen für den heimatlosen Ausgewiesenen gegenüber: „(Frau Hanusch) Armer Mensch! Macht übrigens einen ganz einen sympathischen Eindruck“;90 „(Eva) Komisch seid ihr Männer.“91 Der Gender-Aspekt kreuzt sich mit einem migrationsspezifischen Motiv: Der Zuneigung der verwitweten Postwirtin Frau Hanusch – Evas Pendant auf der rechten Seite – und dem ihr drohenden Konkurs korrespondiert Havliceks prekäre ökonomische Lage, sie verbindet also materielle Interessen, für die eine Heirat als Lösung erscheint, sie „passen zusammen“:92 Eine Eheschließung wäre für den Staatenlosen gleichbedeutend mit einer Einreise und einer beruflichen Zukunft als Gastwirt, für die Wirtin gleichbedeutend mit einer Dienstleistung – „(Frau Hanusch) Ein Mann ist schon was Notwendiges, wenn er auch nur repräsentiert.“93 – und einer privaten Zukunft, die sich die am mangelnden männlichen Begehren leidende Frau von der Heirat verspricht. Übersetzt in den Aufbau, gleicht das „Lustspiel in zwei Teilen“94 einer Sinuskurve, die sich auf der horizontalen „Brücken“-Achse „hin und her“ bewegt und auf der vertikalen Achse am Ende des ersten Teils ihren Tiefpunkt erreicht, als Havlicek in der Nacht alleine auf der Brücke steht, nur in Gesellschaft des Mondes und des neutestamentarisch als Verrat und Tod identifizierten krähenden Hahnes.95 Der zweite Teil mündet in der Morgendämmerung in ein „sichtbar konstruierte[s]“ Happy End“,96 in dem alle Figuren vereint und alle Konflikte gelöst sind – ein märchenhaftes „Ende gut, alles gut!“97 Eines, das die Physik allerdings gefährdet, denn alle befinden sich am Ende auf einer (der linken) Seite der Brücke. Die Dramentektonik unterminiert die glückliche Auflösung, das Happy End ist aus Gründen der Statik riskant, die Utopie ist gefährdet durch die physische Wirklichkeit.

      Und gefährdet durch die politische Wirklichkeit, die „Realität der Grenzziehung und Grenzposten auf dieser Welt.“98 Vor dem Hintergrund globaler Migration und internationaler bzw. nationaler Asylpolitik haben deutschsprachige Bühnen Horváths Stück Hin und her in der Perspektive von Aktualität und Parallelität entdeckt. Seit 2006 lassen sich acht Inszenierungen in Regensburg (2006), Wien (2009, 2016), München (2010), Hall in Tirol (2015), Frankfurt am Main (2015), Freiburg (2016) und Braunschweig (2017) verzeichnen.99 Für alle gibt es „kaum ein zeitgemäßeres Stück“ für ein „drängendes“,100 „brandaktuelles Thema“,101 ein Stück von „geradezu beschämende[r] Aktualität“,102 das deswegen „mühelos den Sprung in unsere Zeit schafft.“103 Die Theater verstehen das Stück als „Spiegel“,104 sie lesen es als eine „knochentrockene realistische Studie“.105 „Die erschreckenden Parallelen zu unserer Gegenwart […] lassen nicht lange auf sich warten, zu präsent sind die Bilder in den Medien und zum Teil bereits vor unserer Haustür.“106 Um „die Gegenwart [zu] beleuchten und womöglich Unruhe [zu] stiften“ (Hazel Rosenstrauch), haben die Bühnen Horváths exil- und migrationsrelevantes Thema in einem identifikatorischen Ansatz von Studenten aus sechs Ländern spielen lassen (Theater babylon, Universität Regensburg), unterhaltend in der Tradition des Volksstücks gegeben (Freiburg, Hall in Tirol), intertextuell geöffnet auf Jean Paul und Elfriede Jelinek (Schauspiel Frankfurt am Main), aus einem kritischen Genreansatz das Groteske fokussiert (Akademietheater München) und in einem intermedialen Verfahren moderne musikalische Kompositionen hinzugefügt (Schlüterwerke, Wien). Von einem wirkungsästhetischen Ansatz der Verfremdung durch Kostümstrategien gehen die Wiener und Braunschweiger Inszenierungen aus, die Schlüterwerke setzen ihn um mit balinesischen Masken; in Braunschweig arbeitet man mit Wolfsfellen, assoziiert die wölfische Natur des Menschen und räumt in den symbolisch aufgeladenen Bildern von Wald und Wolf, die sie für ihre Versuchsanordnung aufrufen, mit der Vorstellung von der Natur als Gegenwelt auf.

      Das Potential literarischer Grenzerfahrung, das in Hin und her steckt, hat Steven Spielberg filmisch aktualisiert. Seinem Film TERMINAL (2004) liegt wie bei Horváth eine authentische Begebenheit zugrunde, auch hier verknüpft sich der Plot mit dem Genre der Komödie. Spielberg griff den Fall des Iraners Mehran Karimi Nasseri auf, der seit 1988 mehr als sechs Jahre auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle gelebt hat. Der amerikanische Regisseur erzählt den Fall im Kontext des Narrativs von den Vereinigten Staaten als Einwandererland und vor dem Hintergrund von „9/11“. Er interpretiert den Fall als unterhaltsame Fabel.

      Ödön von Horváths komisches und unheimliches „zeitloses Zeitstück“ ist ein hochartifizieller Text über den Begriff ‚Grenze‘. Sein Potential literarischer Grenzerfahrung lässt sich so umreißen:

      Politische Grenzen sind mit Jürgen Osterhammel „physische Vergegenständlichung des Staates und Orte der symbolischen und materiellen Verdichtung von Herrschaft.“107 Globale Migration verflüssigt den Begriff der Grenze, hebt Grenze als Indiz und Zeichen der Territorialisierung von Macht auf. Im Spiegel transnationaler Grenzforschungsprojekte, die zum Beispiel in Berlin und Frankfurt an der Oder etabliert sind,108 dient Horváths Stück diesseits des slapstick-Elements des „hin und her“, der Konstruktion einer Welt und der Empörung, also diesseits von Komödie, Fiktion und Moral, als Muster politischer Methoden und als Handlungsmodell.

      Der Protagonist ist eine ‚displaced person‘, er ist ein Flüchtling nach der Definition des „Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge“, das die UN-Sonderkonferenz 1951 beschloss. Die Auffassung der Genfer Flüchtlingskonvention, die den passiven Objektstatus betont, wird in der Kritischen Migrationsforschung durch den Begriff des Migranten als Akteur abgelöst. Kristina Schulz (Bern) und Irene Messinger (Wien) sprechen von „Subjektivierung der Migration“, die an die Stelle der Viktimisierung (Opfer) und der Kriminalisierung (Täter) trete. MigrantInnen als aktive, handelnde Subjekte zu begreifen, heißt, nach ihren „sozialen Praktiken in und zwischen Herkunfts- und Zielländern“ zu fragen.109 Horváths handlungsfähiger Protagonist kann hierfür als Typus gelten.

      Das Stück bietet exemplarische Lösungsstrategien bzw. Lösungen und alternative Deutungen an:

      Es trennt den Begriff ‚Heimat‘ von (ethnischer) Herkunft (Geburtsort) und spricht stattdessen von kultureller Erfahrung und Praxis.110

      Es