Группа авторов

Grenze als Erfahrung und Diskurs


Скачать книгу

„Vorhang“ für den 37 Jahre jungen Autor.

      Im selben Jahr, 1933, beginnt Horváth die Arbeit an dem vorläufig Die Brücke genannten Stück Hin und her, es markiert ebenso wie Die Unbekannte aus der Seine den Übergang zu seinem Spät- bzw. Exilwerk. Lässt sich diese Komödie, des ironischen Bonmots für das Theater am Ende der Weimarer Republik entkleidet, als „zeitloses Zeitstück“ verstehen? Wäre die Komödie heute mehr als dramatischer Zeitgeist, also das, was Horváth in seinem Dramolett dem Weimarer Theater attestierte? Was wäre ihr ästhetisch-kritisches Potential in einem aktuellen politischen Kontext? Würde es, gegen Heinz Lunzers auf den zeitgeschichtlichen Kontext bezogene Interpretation, der „Aktualität des Themas Heimat- und Staatenlosigkeit“ gerecht?3

      Siegfried Kienzle hat Horváths Stück als eine „bewußt zeitlose Kömödie“ bezeichnet, die „Zeitbezüge“ enthalte.4 Es verhandelt laut dem Dramatiker „das Schicksal eines Mannes, der aus einem Staat ausgewiesen […], aber in den Nachbarstaaten nicht eingelassen [wird] und […] nun gezwungen [ist], eine Zeitlang auf der Brücke zu hausen […], die über einen Fluß gelegt ist, der die Grenze zwischen den beiden Staaten darstellt“.5 Eine biographische und eine produktionsästhetische Dimension des zeitgenössisch aktuellen grenzpolitischen Bezugs lassen sich ausmachen: 1933 lief Horváth Gefahr, seine Staatsangehörigkeit zu verlieren, denn Ungarn verlangte seit 1921 mit dem Gesetz zur Regelung der ungarischen Staatsbürgerschaft, dass im Ausland lebende Staatsbürger ihre Staatsbürgerschaft alle zehn Jahre durch einen Staatsbürgerschaftsnachweis erneuern mussten. Horváth reiste am letzten Tag vor Ablauf der amtlichen Frist am 10. Dezember 1933 nach Budapest.6 Ein grenzpolitischer Bezug findet sich auch in einer Zeitungsmeldung, die Horváth in einem Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung erwähnt. Im Bericht vom 14. September 1933 über die geplante Premiere des Stücks am Deutschen Volkstheater Wien nennt Horváth einen authentischen Grenzkonflikt, den er einer „Zeitungsmeldung“ entnommen habe, einen „unwahrscheinlich[en]“, aber „wortwörtlich wahr[en]“ „Zufall“: „[E]in Mann [war] aus der Tschechoslowakei abgeschoben [worden], aber in Posen, wohin man ihn abschob, nicht eingelassen worden. Auch die Brücke kam in dem Telegramm vor und es hieß, daß dieser Mann mehrere Nächte auf dieser Brücke schlafend zubringen mußte.“7 Die eskapistische Geste des Autors, in seinem Stück sei „[…] freilich von Phantasiestaaten die Rede, es ist dabei an keinen der existierenden Staaten speziell gedacht“,8 hat allerdings nicht verfangen: Die am Wiener Deutschen Volkstheater für Dezember 1933 geplante Uraufführung unter der Regie von Karl Heinz Martin kam aufgrund einer Pressekampagne von rechts nicht zustande. Einen Tag nach dem Interview in der Wiener Allgemeinen Zeitung polemisierte das Wiener 12-Uhr-Blatt gegen den „berüchtigte[n]“ Autor, „der Österreich vor den Augen des Auslands in den Kot gezerrt und den Berlinern den Österreicher als kretiniertes Wesen vorgestellt hat.“9 Statt in Wien kommt Hin und her am 13. Dezember 1934 am Zürcher Schauspielhaus unter der Leitung von Gustav Hartung und im Bühnenbild von Teo Otto heraus. Noch nicht sein Autor – Horváth hält sich zu der Zeit in Berlin auf, empfiehlt sich als Filmautor –, aber das Stück ist schon emigriert. „[E]ine der schönsten Persiflagen auf die Herrschaft des bedruckten und gestempelten Papiers über den Menschen“,10 „gewiss nicht gestriger, menschlich sympathischer Fall“11 und „wirklich bester Komödienstoff“,12 hat gleichwohl keinen Erfolg: Die „prächtige Idee“ werde „so zerdehnt, dass ihre komödienhafte Wirkung allmählich verlorengeht, sich in Posse verflüchtigt“.13 Der „auseinanderstrebende Komödienkuchen“14 mit „halb possierliche[n], halb reflexive[n] Situationen“15 ennuierte den Premierengast Thomas Mann, der ein „minutenweise komisches, aber zu einfallsarmes Singspiel“16 gesehen hatte. Nach nur zwei Aufführungen wurde das Stück abgesetzt. Martin Stern hat dieses Scheitern aus dem Genrecharakter in der Tradition der Wiener Posse und insbesondere ihres Vertreters Johann Nestroy erklärt, auf dessen Stück Hinüber – Herüber (1844) schon der Horváth’sche Titel anspielt und von dem er zum Beispiel das Handlungselement der Belohnung für die Verhaftung von Dieben übernimmt. Handlungsführung und die finale Versöhnung, vor allem aber ein assoziativer Sprachgebrauch seien an ein Wiener Publikum adressiert gewesen.17 Horváth selbst hatte im Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung zugestanden, dass seine Posse mit Gesang „in mancher Hinsicht an Nestroy und Raimund“ erinnere.18 Johanna Bossinade sah die Anforderungen an das „Modell ‚Posse‘“ jenseits des grenzpolitischen Themas und Konflikts „nachgerade übererfüllt“.19

      Trotz dieses formtraditionellen Potentials wurde Hin und her nach 1945 in Österreich kaum aufgeführt, wie überhaupt Horváths Dramen im Kontext personeller und ästhetisch konservativer Kontinuitäten nach der nationalsozialistischen Kapitulation kaum gespielt wurden.20 Die erste Inszenierung 1946 am Wiener Theater in der Josefstadt in der Regie von Christian Möller traf auf eine „völlig veränderte Rezeptionssituation. Vor dem Hintergrund der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Flüchtlingsproblematik, insbesondere der kontroversiellen Frage der Displaced Persons, reagierte nun die Kritik […] sehr gemischt.“21 Während die österreichischen Kommunisten von „Mitleidspropaganda für Vertriebene“ sprachen,22 beeindruckte den Rezensenten der Arbeiter-Zeitung Otto Koenig die „durch die Ereignisse […] unheimlich aktualisierte Posse.“23

      Dieser zeitgenössische politische Kontext von Auffanglagern für Displaced Persons bildete auch den Hintergrund der einzigen Verfilmung von Horváths Stück aus dem Jahr 1947.24 Der mit Horváth seit gemeinsamen Filmarbeiten 1934 bekannte Schauspieler und Regisseur Theo Lingen transponierte Plot und Motiv auf eine Weise, die mit dem Herr-und-Diener-Motiv, Verwechslungen und Doppelrollen und der romantischen Liebe von Königskindern feindlicher Phantasiestaaten an Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena (1836) erinnert. Zugleich politisierte Lingen in HIN UND HER den Stoff auf satirische Weise: Gleichermaßen korrupt und autokratisch, unterscheidet sich die Monarchie Lappalien nicht von der Republik Bagatello, deren feudale Herrschaftsarchitektur im einen Fall alpenländisch dekoriert und im anderen Fall im Stil der Mussolinischen Moderne überformt ist. Beide Regierungen verfolgen jeden Oppositionsgeist, für ihre Vorstellung vom idealen Untertan blendet der Film eine Kuh- bzw. Schafsherde ein. Musikkapellen übertönen öffentliche politische Rede, das ist „ein altes Rezept“.25 Aus Horváths Protagonisten Havlicek wird der (von Theo Lingen gespielte) politisch verdächtige Fotograf Peter Vogel, dem man, der Republik verwiesen, die Einreise in seine Heimat Lappalien verweigert. Eine Künstlerfigur mit einem „romantischen Schicksal“,26 führt der Staaten- und Heimatlose eine Bohème-Existenz, er will sich „nicht als Lappalie behandeln und auch nicht bagatellisieren“ lassen,27 er lebt „in einem selbst gezimmerten Häuschen unterhalb der Brücke auf eigenem Hoheitsgebiet und somit exterritorial. Er ist verfolgt und geduldet zugleich.“28 Nicht Liebe und nicht – verhinderte – Attentate, sondern die dramaturgische deus ex machina-Figur eines plötzlich geerbten Vermögens scheint den Konflikt zu lösen, denn nun wird der Protagonist „von beiden Staaten als Steuerzahler begehrt.“29 Die Lösung wird aber in einem Aus-Weg gefunden, den Horváths Stück nicht erwägt: Dem in der Schlusseinstellung von einer Eulenspiegel-Figur, seinem alter ego, geratenen „Gib’s auf, Peter, fang neu an“ folgt die Hauptfigur und fährt mit einem Motorboot davon. „Wohin? […] Dahin, wo mir das nicht passieren kann, was mir hier passiert ist.“30

      Erstmals ein größeres Publikum findet Hin und her im Rahmen der Wiener Festwochen 1960, die bundesdeutsche Erstaufführung bringt das Hessische Staatstheater Wiesbaden 1965 heraus. Beide Male setzen sich Text und Inszenierung dem Vorwurf der politischen und ästhetischen „Verharmlosung“ aus im Kontext der innerdeutschen Grenze31 und im Kontext eines sich herausschälenden Gegenwartstheaters, zu dem es nicht passe, „im Grenzübergang einen Operettenstoff zu sehen.“32

      Die Wiener Schriftstellerin Hazel Rosenstrauch hat anlässlich der Verleihung des Theodor Kramer Preises im September 2015 gefragt, „wie man die Gedanken und Gefühle der Exilautoren von damals aus der Büchse holen [kann], damit sie auch die Gegenwart beleuchten und womöglich Unruhe stiften können?“33 Vor dem ‚Wie‘ theatraler Versuche der Gegenwart aber sollte deutlicher werden, was Hin und her dafür anbietet:

      Der Plot ist inzwischen hinreichend deutlich geworden: Aufgrund fehlender Papiere aus dem einen Staat ausgewiesen und in den anderen nicht hineingelassen, bewegt sich der alleinstehende,