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Grenze als Erfahrung und Diskurs


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zweier Territorien, die aus historischen Bedingungen entstanden ist oder in spezifischen Machtverhältnissen ihre Begründung findet, bezeichnet. So erzählt Regler von Spaziergängen, die ihn in der Nähe seines Geburtsortes Merzig, zwischen Hilbringer Wald und Märchengrund, in Begleitung seines Vaters zu der lothringischen Grenze führten. Die programmatisch überformte und literarisch stilisierte Kindheitsbegebenheit hinterfragt das in den Übergängen vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandene Konzept des Nationalstaates und dekuvriert auf diese Weise das Normative der Grenzziehung und der daraus resultierenden Distinktionen als Imagination, weshalb es künstlicher Merkmale und Kennzeichnungen bedarf, diese sichtbar und dauerhaft verifizierbar zu machen.

      Ostern zog er [der Vater] mit uns über die Felder und Hügel und lehrte uns die „wichtige Umgebung“ kennen […]. Wenn wir dann „ganz am Anfang“ angelangt waren, wo es keine Geographie mehr gab, lenkte er wohl zur alten viel umstrittenen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich hin und ließ uns an bestimmten Stellen Blumen pflücken oder das Fallobst von verschiedenen Bäumen probieren; unvermittelt fragte er uns: „Welcher Apfel ist französisch?“ Wir hielten die angebissenen Äpfel still vor unsern Mündern und sahen auf die Baumallee, die aus dem Unendlichen zu kommen schien und sich in das Unendliche fortsetzte. Wir verstanden ihn früh: er glaubte nicht an Grenzen.4

      Auch wenn Regler seine Heimatstadt bereits früh verlassen hat und lediglich im Kontext des Abstimmungskampfes der Jahre 1933 bis 1935 für längere Zeit in das Saargebiet – er selbst nennt es das „kleine Niemandsland zwischen dem Dritten Reich und Frankreich“5 – zurückkehrte, bewies sich die Erfahrung der französischen und der deutschen Traditionen, die in dieser Grenzregion einander sowohl wechselseitig durchdringen und ergänzen als auch gegeneinander streiten, als bestimmend für sein literarisches Werk wie sein politisches Engagement.

      Die Episode, von der er in jenen einleitenden Kapiteln seiner Autobiografie erzählt, die der Kindheit und Jugend in Merzig gewidmet sind, überführt darüber hinaus dieses große Thema seines Lebens in ein literarisches Bild. So ist die vom Vater anschaulich vermittelte Einsicht in das Konzept der Grenze als Konstrukt der Hintergrund für die Beschreibung eines Lebens im Spannungsfeld der nationalistischen Verwerfungen und ideologischen Konflikte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie grundiert die Erfahrungen des Krieges, die Reglers private wie literarische Existenz wesentlich bestimmt haben: Nach dem Abitur wurde er als Infanterist zum kaiserlichen Heer eingezogen und erlitt an der Westfront eine Gasvergiftung. In Das Ohr des Malchus inszeniert er sich demnach als Angehörigen einer vom Krieg gezeichneten und deshalb geistig ortlosen, verlorenen Generation. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als Politischer Kommissar bei den Internationalen Brigaden gegen die von General Francisco Franco angeführten spanischen Faschisten; auch dort wurde er schwer verwundet. Schließlich zwang ihn der vom nationalsozialistischen Deutschen Reich entfesselte Krieg, Europa zu verlassen und nach Mexiko zu emigrieren.

      Sein Erinnerungsbuch erzählt von diesen Erlebnissen und betrachtet die politischen und ideologischen Positionen, in deren Gravitationsfeldern sich das Leben des Schriftstellers bewegt hat. Der intellektuelle Internationalismus, den das Werk vertritt, erlangt durch den Rückbezug auf die Herkunft aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet eine Beglaubigung durch das eigene Leben: Indem das erzählte Ich bereits als Kind versteht, dass Grenzen gedachte Linien sind, dass sie politische und ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zwar beeinflussen und wesenhaft prägen, aber dennoch nur als Konstrukte zu verstehen sind, indem die für den Verlauf der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert so wesentliche Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ein integraler Bestandteil der Lebenserzählung ist, verweist der Text auf das Metaphorische, das in den Bildern der Grenze und den Diskursen über Grenzverläufe zugleich angelegt ist.

      Dieses Moment des Sinnbildhaften kontrastiert in der Autobiografie mit der Beschreibung realer Grenzen, die das erzählte Ich zu überqueren bzw. zu überwinden hat. So berichtet das Vierte Buch von einer Zugfahrt, die im Jahr 1933 aus dem Saargebiet, dem „Niemandsland des Völkerbundes“, nach Trier führte.6 Obwohl er sich des Riskanten und Gewagten bewusst ist, schließt er sich einer Gruppe von Gläubigen an, die in die Domstadt pilgern, um den Heiligen Rock zu sehen.

      Täglich fuhren Pilgerzüge das Saartal hinunter, ohne sich um die Grenze zu kümmern. In den wenigen Monaten des Exils war mir der Gedanke in Fleisch und Blut übergegangen, daß das Dritte Reich identisch sei mit Terror, Gewalt und Verfolgung. Niemand von uns konnte sich getrauen, ins Reich zurückzukehren, ohne den Tod zu riskieren. Würden die Pilger die veränderte Luft riechen, wenn sie aus dem liberalen Saarland ins Reich der Diktatur fuhren? Ich wollte es selbst feststellen und schloß mich unter einem anderen Namen einem der Pilgerzüge an.7

      Der Text inszeniert das Gefahrvolle des Grenzübertrittes mit retardierenden Momenten, indem der Erzähler von der Landschaft, den Pilgern im Zug und schließlich einem stattgefundenen Gespräch über die Passion Jesu Christi berichtet.8 Signifikant ist die Schilderung der Zugreise deshalb, weil der Gedanke der „veränderte[n] Luft“, den der Erzähler – zwischen Soliloquium und rhetorischer Frage die Balance haltend – formuliert, als eine Kontrafaktur auf den Spaziergang des Knaben mit dem Vater bezogen ist.9 Betont dieser das Immaterielle von Grenzen sowie die Fragwürdigkeit, die Schnittstellen zwischen Nationen durch Markierungen sichtbar und damit erst unterscheidbar zu machen, bezeichnet die Grenze hier die Differenz zwischen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes, und der Herrschaft der Gewalt und Willkür im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Solchermaßen inszeniert der Erzähler den Kontrast zwischen der Liberalität seines Denkens, die in Herkunft und Erziehung gründet, und seiner Epoche, die – das Trennende zwischen den Völkern und Staaten betonend – von dem (Un)Geist des Nationalismus bestimmt wird und zwei Weltkriege hervorgebracht hat. Die rhetorische Frage, welche die autobiografische Darstellung in das Zentrum dieser Zugfahrt rückt, dekuvriert den Internationalismus des Intellektuellen jedoch als eine schöne, aber vergebliche Hoffnung.

      Im Fluchtpunkt dieser Erzählung liegt das Bild, das die Autobiografie von dem Tag zeichnet, an dem das Ergebnis der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 bekannt gegeben wurde. Das erzählte Ich hat auf Seiten der kommunistischen Partei für den Erhalt der bestehenden Rechtsordnung und damit für den Verbleib des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes gekämpft. Die sogenannte „Rückgliederung“ an das Deutsche Reich, für die über neunzig Prozent der Bevölkerung gestimmt hatte, bezeichnet deshalb einerseits die Niederlage einer humanistischen Idee; andererseits dokumentiert sie den progredienten Zerfall der europäischen Friedensordnung in der Zwischenkriegszeit. Für den politischen Schriftsteller, der seit dem November 1934 den Nationalsozialisten als Staatsfeind galt und deshalb verfolgt wurde, bedeutete sie auch die Notwendigkeit einer erneuten Flucht nach Frankreich. Das Symbolische, das in diesem Grenzübertritt liegt, der ein weiteres Mal ein Gang in das Exil ist, wird in der Darstellung durch das erzählende Ich in besonderer Weise herausgearbeitet. Über den Abend des 14. Januar 1935 heißt es in Das Ohr des Malchus:

      Ich entkam in der Nacht durch die Wälder von Forbach, über den Berg von Spichern nach Lothringen. Als ich am deutschen Soldatenfriedhof vorbeikam, fiel mir ein, daß 1870 mein Großvater hier gegen die Franzosen gekämpft hatte; Vater aber hatte uns vor den gleichen Gräbern immer gesagt, die Soldaten seien für eine Chimäre gefallen, es gebe keine Grenzen, wenn man genau hinschaue, nur Grabsteine, aus denen die Menschen nichts lernen. Auch daran dachte ich in diesem Augenblick.10

      Die Flucht führt das erzählte Ich nicht nur über die räumliche Grenze nach Lothringen, in das sichere Frankreich, sondern auch über eine zeitliche in die Vergangenheit. Beide Bewegungen erscheinen im Text simultan; und beide vollziehen sich vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Geschichte, deren Folgen auch die Gegenwart des Erzählers noch bestimmen.

      Die Erinnerung an den Krieg des Jahres 1870/1871, die mit dem Verweis auf den Großvater und dem Bild des Soldatenfriedhofes evoziert wird, deutet nur sekundär auf die sogenannte Reichsgründung nach dem Sieg der deutschen Staaten über die zweite französische Republik. Sie rekurriert primär auf die Haltung des Vaters, den Glauben seiner Epoche wie das Sinn- und Identitätsstiftende der Grenzen zu hinterfragen. In dem nächtlichen Grenzübertritt des erzählten Ich überlagern sich also zum einen zeitliche und räumliche Dimensionen, zum anderen die