Группа авторов

Grenze als Erfahrung und Diskurs


Скачать книгу

      Der nachfolgende, das Kapitel beschließende Abschnitt nimmt weitere Aspekte der Grenz(land)thematik auf und setzt diese mit den zuvor genannten in Beziehung:

      Ganz nah schon der Grenze fiel mir Kaganowitsch ein, der mich für den Fall unseres Sieges zu einem Fest nach Moskau eingeladen hatte. Es war eine sternenklare, kalte Nacht. Der große Bär stand über dem Warndt, dort, wo die Maginot-Linie unterbrochen war. Ich begegnete weder einem Grenzwächter noch einem Nazi. Sie feierten alle. Aus dem Tal von Saarbrücken schossen Raketen; vom Winterberg glühte ein Freudenfeuer.11

      Indem der einsame Weg, den das erzählte Ich durch Nacht und Kälte nimmt, mit den Bildern der Feiernden, der Raketen über dem Tal und dem leuchtenden Feuer über der Stadt kontrastiert, veranschaulicht der Text die Verlassenheit, die mit dem Gang in die Emigration verbunden ist. Der Grenzübertritt erscheint in dieser Lesart auch als ein Schritt in die soziale Isolation. Das Pathos, mit dem dies inszeniert wird, unterstreicht den Aspekt zusätzlich.

      Zugleich wird das Persönliche, das in diesem Erleben liegt, mit dem Zeitgeschichtlichen in ein Verhältnis gesetzt. Denn die Nennung der von dem französischen Verteidigungsminister André Maginot zwischen 1930 und 1940 errichteten Verteidigungsanlage verweist auf die konfliktgeladenen deutsch-französischen Beziehungen in dem Jahrzehnt, das dem Zweiten Weltkrieg vorausging. Aber noch eine weitere Dimension der Erfahrung von Grenze wird in diesem Textabschnitt sichtbar: Die imaginäre Linie der politischen Landkarte, die Nationen, Macht- und Einflusssphären voneinander scheidet, aber keine Entsprechung in der Topografie der Landschaft hat, ist mit diesem Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg und dem Deutschen Reich dinghaft geworden. Dass der Erzähler bei seinem nächtlichen Grenzübertritt um eine Stelle weiß, „wo die Maginot-Linie unterbrochen war“, kann deshalb als ein Sinnbild für die Position des Schriftstellers zwischen Deutschland und Frankreich gelesen werden.12

      Während die Natur solchermaßen von der Kultur verdrängt und überformt worden ist, richtet sich der Blick des erzählten Ich in dem Bericht über seine nächtliche Flucht auf den weiten, unbegrenzten Sternenhimmel. Vor dem Hintergrund politischer Ideologien, kriegerischer Auseinandersetzungen und lebensgeschichtlicher Krisen verweist Reglers Erinnerungsbuch damit auf den Widerspruch zwischen der Existenz in der realen Geschichte und den idealen Möglichkeiten des Seins, die der Mensch zu denken vermag. Diese Ausweitung der Perspektive, die literatur- wie ideengeschichtlich in der Nachfolge der Dichtungen Matthias Claudius’ steht, ist daher auch als eine Metapher für die Vergeblichkeit einer Littérature engagée in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen.13

      Aus der Retrospektive der Nachkriegszeit unternimmt Gustav Regler den Versuch einer Einordnung seiner Arbeit als politischer Schriftsteller. Die metaphorische Funktion, welche die Grenze im Zusammenhang seiner Lebenserinnerungen hierbei gewinnt, hebt die Einsicht hervor, dass allem Trennenden stets ein Moment von Gewalt immanent ist. Einer Gewalt, mit der Menschen die Möglichkeiten anderer Menschen (aber auch ihre eigenen) einschränken und beschränken; einer Gewalt, die sowohl eine schirmende, schützende Funktion hat als auch limitierend wirkt. Durch das Zeugnis des eigenen Erlebens verleiht der Schriftsteller diesem humanistischen Gedanken eine Beglaubigung. Dass die autobiografische Darstellung zu Teilen von der historischen Wahrheit abweicht, sie verdichtet und überformt, stilisiert und inszeniert, ist für die Aussage wie Programmatik der literarischen „Lebensgeschichte“, wie Regler sein Werk im Untertitel charakterisiert, unerheblich.14

      Der Diskurs über die Grenze, die paradoxe Mehrdimensionalität ihrer Bedeutungen sowie ihre politischen wie literarischen Implikationen bestimmen auch die weitere Gestalt des Erinnerungsbuches. Dieser Beitrag wird deshalb abschließend zwei Schilderungen betrachten, die weitere Aspekte des Themenkomplexes beleuchten. Da ist zunächst jener Abschnitt zu Beginn des ersten Kapitels des Fünften Buches anzuführen, in dem das erzählte Ich von einem Grenzübertritt von Frankreich nach Spanien berichtet. Im September des Jahres 1936 verlässt er mit anderen Freiwilligen Paris, um auf Seiten der Republik gegen den Staatsstreich der spanischen Faschisten zu kämpfen. In dem Weg, der ihn über die Pyrenäen zu den Internationalen Brigaden führt, wiederholt sich der Weg, den er, ebenfalls als Freiwilliger und ebenfalls von Paris kommend, in seine alte Heimat, an die Saar, genommen hat.

      Das Ohr des Malchus ist nach dem narrativen Prinzip der Spiegelungen aufgebaut. Jede Erfahrung, jede Szene und jede Begegnung hat eine Entsprechung, die in einem Korrespondenzverhältnis zu ihr steht; die Abschnitte und Stationen des erzählten Lebensweges kommentieren einander. In diesem Sinne sind die politische Agitation im Saarkampf und das militärische Engagement im Spanischen Bürgerkrieg aufeinander bezogen. (Dies zeigt sich auch in der Rolle der kommunistischen Partei, über die das Buch in der Darstellung beider Lebensabschnitte nachdenkt und zu der das erzählte Ich seine eigenen Positionen in ein Verhältnis zu setzen sucht.)

      Während die Begegnung mit der „SA auf dem Bahnsteig“ sowie mit Polizisten mit Hakenkreuzbinden in Serrig an der Saar als ängstigend und einschüchternd geschildert wird, hat die Szene mit dem französischen Douanier eine humoristische Qualität:15

      Wir sahen schon den spanischen Milizionär hinter dem Grenzbaum stehen und fühlten, wir müßten vorwärtspreschen in seinen Schutz hinein, aber wir gehorchten dann doch dem Wink des französischen Zöllners und hielten. Er prüfte lange unsere Papiere. Dann kam die Mittagszeit, in der jeder Franzose von Kultur nur noch die Stimme des Magens hört. […]

      Unser Beamter trat vor die Tür des kleinen Häuschens. „Ich fahre zum déjeuner“, sagte er. „Was während der Mittagspause hier geschieht, geht mich nichts an.“16

      Die Darstellung spielt nicht nur mit klischeehaften Vorstellungen nationaler Eigenart, die seit dem späten 18. Jahrhundert tradiert worden sind. Indem der Grenzbeamte seinen persönlichen Ermessensspielraum nutzt, um dem erzählten Ich und seinen Gefährten zur Ausreise zu verhelfen, zeigt die autobiografische Erzählung Möglichkeiten eines notwendigen, weil moralisch richtigen Ungehorsams auf. Auf diese Weise veranschaulicht der Text eine der übertragenen Bedeutungen des Grenz-Begriffs: Das Zusammenleben von Menschen in sozialen Gemeinschaften wird durch Gesetze und Normen reguliert, welche die Entfaltung des Einzelnen einerseits befördern, andererseits limitieren. Die humane Haltung, die hinter der Genreszene in Reglers Erinnerungsbuch aufscheint, sieht im Wohlergehen des Menschen den Maßstab sittlichen Handelns: Grenzen und Begrenzungen sind lediglich dann sinnhaft, wenn sie eine Funktion im Hinblick auf den Menschen haben; kehrt sich diese Relation um, werden sie zu einem Instrument totalitärer Herrschaft.

      Inwiefern die Frage nach der Freiheit des Individuums im Kontext des Diskurses über Grenzen fassbar wird, zeigt ein Abschnitt aus dem Sechsten Buch der Autobiografie. Dem erzählten Ich ist es – vornehmlich durch die Fürsprache namhafter Freunde – gelungen, Europa zu verlassen. Bevor er jedoch in die Vereinigten Staaten von Amerika einreisen darf, muss er einige Tage auf Ellis Island verbringen, jener der Stadt New York vorgelagerten Insel im Mündungsgebiet des Hudson River, auf der die Einwanderungsbehörde über die Einreiseerlaubnis für Immigranten entscheiden musste. Sowohl die Schiffspassage über den Atlantik als auch der Aufenthalt auf der Insel werden verkürzt wiedergegeben; der Erzähler fokussiert nicht die Erlebnisse der Reise, sondern ihr Ergebnis:

      Acht Tage später waren wir in Ellis Island; ein Gefängnis, aber kein Luftalarm mehr; Eisengitter, aber kein Maschinengewehr davor. Manhattan leuchtete wie ein Versprechen. Luxusessen, nachts saubere Decken, am Morgen heiße Bäder. Nach zwei Tagen waren wir frei!17

      An der Grenze der Vereinigten Staaten macht das erzählte Ich zwar die Erfahrung einer erneuten Gefangenschaft. Indem diese aber mit den Gefahren und Begrenzungen des europäischen Kontinents verglichen wird, verliert sie als ein transitorischer Zustand ihren Schrecken. Der letzte Grenzübertritt, von dem Das Ohr des Malchus erzählt, bezeichnet den Weg des erzählten Ich aus dem durch Grenzen zerschnittenen, zerteilten, zergliederten Europa in das freie, grenzenlose Amerika. Wenngleich diese Darstellung von einer ahistorischen Stilisierung bestimmt wird, zeigt sie die Funktion der Grenze als eine Zone des Übergangs. In diesem positiven Bild liegt die Einsicht, dass Grenzen als materialisierte Schnittstellen zwischen Staaten nicht nur Paradigmen der Spaltung, der Teilung und Trennung sind, sondern, indem sie dazu beitragen, Identität und Selbstbild einer Nation zu stabilisieren, Freiheit