Maya Shepherd

Schattenchance


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mit unserem neuen Lehrer zu tun? Wie war nochmal gleich sein Name?“

      „Liam“, rutschte es mir prompt heraus, woraufhin sie geradezu entsetzt die Augen aufriss. „Mr. Dearing“, verbesserte ich mich schnell, lief aber dabei knallrot an.

      „Woher kennst du seinen Vornamen?“, wunderte sich Dairine und ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Ihre Neugier lief auf Hochtouren.

      „Er steht in dem Lehrerverzeichnis unserer Schulwebsite“, behauptete ich.

      Sie schnappte fassungslos nach Luft. „Du hast ihn gegoogelt?“

      „Nein!“, rief ich empört aus. „Ich habe etwas anderes nachgeschaut und er stand zufällig auf der ersten Seite. Was hätte ich tun sollen? Mir die Augen zuhalten?“

      „Nein, bei Liam“, sie räusperte sich, „Mr. Dearing sollte sich keine Frau die Augen zuhalten.“ Kichernd rollte sie sich wieder auf den Bauch. „Er ist mit Abstand der heißeste Lehrer, den ich je gesehen habe. Aber es wundert mich, dass du das auch bemerkt hast. Du bist doch mit Evan zusammen!“ Ihr letzter Satz hörte sich leicht spitz an. Sie nahm es mir immer noch übel, dass ich ihr nicht vorher etwas von unserer Beziehung oder meinen angeblichen Gefühlen für ihn erzählt hatte. Das erinnerte mich daran, dass ich ihr die Wahrheit hatte sagen wollen, doch irgendwie erschien mir auch dieser Moment unpassend. Ich fürchtete mich insgeheim davor, dass Evan recht hatte und ich Dairine zu viel zumutete. Was, wenn sie mir doch nicht glaubte? Egal, was ich ihr erzählte, sie würde es für sich behalten, aber eventuell würde sie mich danach mit anderen Augen sehen. Als Verrückte, als Spinnerin, als Wahnsinnige!

      „Ich mag Evan“, gab ich vage zurück und fühlte mich schlecht dabei.

      „Ihr passt gut zusammen“, meinte Dairine. „Ihr seid das ideale irische Traumpaar! Er mit seinen rotbraunen Locken und du mit deinem kupferfarbenen Haar und der hellen Haut. Zusammen könntet ihr Werbung machen und viel Geld verdienen.“

      Sie übertrieb. Ich verfluchte Evan dafür, dass er ihr und den anderen diese Lüge aufgetischt hatte, nur um sich vor Lucas nicht outen zu müssen.

      Die Titelmusik von Pretty Little Liars begann.

       Got a secret

       Can you keep it?

      Von der Straße her war ein lautes Rumpeln zu hören. Wir sahen uns beide überrascht an und stürzten dann gleichzeitig zum Fenster. Dairine wohnte in einer besser situierten Wohngegend mit direktem Blick auf den Strand. Ihr Haus war schon definitiv als Villa zu bezeichnen – die Art ihrer Eltern, sie für ihre mangelnde Zeit zu entschädigen. Der nächste Nachbar befand sich somit in einiger Entfernung. Doch nun stand vor dem weißen, freistehenden Anwesen ein leuchtend roter LKW eines bekannten Umzugsunternehmens. Die beiden Arbeiter in ihren roten Latzhosen hatten offenbar einen gewaltigen Schreibtisch nicht richtig gesichert, sodass dieser aus dem LKW gestürzt war und nun vor ihnen auf dem Boden lag. Entsetzt blickten sie auf das gute Stück, als ein weiterer Mann fluchend aus dem Haus gestürzt kam. Er trug einen eleganten Anzug und hatte das dunkle Haar streng zurückgegelt. Sein Anblick bescherte mir Schweißausbrüche und pure Panik.

      Ohne verstehen zu können, was er sagte, hörten wir ihn laut schimpfen und schreien. Er war es unverkennbar: Charles Crawford, das Oberhaupt der Fomori und der biologische Vater von Eliza. Charles, der seinen eigenen Sohn in einem Ritual getötet hatte, um unsterblich zu werden. Charles, der nun in das Anwesen neben meiner besten Freundin zog.

      „So ein Ekelpaket“, meinte Dairine und hatte Mitleid mit den Arbeitern, die den teuren Schreibtisch hatten fallen lassen. „Wer weiß, wie lange die armen Kerle schon schuften müssen, ist ja schon Abend, kein Wunder, dass sie sich dann nicht mehr richtig konzentrieren können.“

      „Weißt du, wer das ist?“, flüsterte ich und versuchte, die Fassung zu bewahren.

      Sie warf mir einen Seitenblick zu. „Keine Ahnung, wie er heißt, aber er kandidiert wohl für den Bürgermeisterposten.“

      „Er zieht doch gerade erst ein“, wunderte ich mich. „Wer soll den denn wählen?“

      „Er muss ein ziemlich hohes Tier in seiner Partei sein. Immer, wenn ich ihn gesehen habe, war er umgeben von Anzugträgern.“ Die Fomori. „Geld regiert die Welt“, meinte sie schulterzuckend und verließ den Platz am Fenster, um sich wieder der Serie zuzuwenden. Die letzten Takte der Titelmusik verklangen.

       Cause two can keep a secret

       If one of them is dead

      Fremde Schuhe standen in unserem Hausflur: schwarze Pumps aus Lackleder mit mindestens zwölf Zentimeter Absatz. Das konnte nur eines bedeuten: Tante Rhona war zu Besuch. Ich kannte niemanden außer ihr, der täglich solche Schuhe trug und dabei auch noch behauptete, dass sie bequem wären. Insgeheim vermutete ich, dass Rhona sich mehr in den Schatten bewegte als auf ihren Füßen und deshalb vergessen hatte, wie schmerzhaft solche Schuhe nach einer gewissen Zeit werden konnten. Seitdem ich unsere Vergangenheit neu gemalt und unsere Mutter dazu aufgefordert hatte, Eliza zu erzählen, dass sie adoptiert war, bevor sie es selbst herausfinden konnte, schneite Rhona etwa alle drei Monate unangekündigt bei uns rein. Sie war es gewesen, die Eliza geholfen hatte, die Verwandlung zur Schattenwandlerin durchzustehen, ohne, dass diese ein großes Chaos und Drama anrichtete. Eliza wusste auch, dass Rhona ihre leibliche Mutter war, doch über ihren Erzeuger wahrte sie stets Stillschweigen, was meine Schwester nicht nur enttäuschte und frustrierte, sondern auch sehr wütend machte. Sie wollte unbedingt wissen, wer es war, doch bisher war ihre Suche nach ihm immer erfolglos geblieben. Zum Glück!

      Nachdem ich gesehen hatte, wie Charles Crawford in das Anwesen neben Dairine eingezogen war und sie mir auch noch das Gerücht aufgetischt hatte, er wolle für den Bürgermeisterposten kandidieren, ahnte ich nichts Gutes. Rhona steckte mit ihm unter einer Decke, war sozusagen seine rechte Hand. Nur weil sie Eliza schon einmal vor ihm gerettet hatte, musste das nicht bedeuten, dass wir uns auch in dieser Realität auf sie verlassen konnten. Ich vertraute ihr einfach nicht!

      Missmutig zog ich meine Schuhe ebenfalls aus und trat ins Wohnzimmer, wo meine Mutter auf der Couch saß.

      „Was macht Rhona denn schon wieder hier?“, murrte ich genervt und ließ mich neben ihr in das tiefe Polster plumpsen.

      „Das nenne ich doch mal eine herzliche Begrüßung“, ertönte die gefühlskalte Stimme meiner Tante aus dem Nichts und sie tauchte neben dem Kamin aus den Schatten auf. Dicht gefolgt von Eliza, die heute auch nicht in der Schule gewesen war.

      „Rhona meint, ich bin weit genug, um die Erinnerungskontrolle zu erlernen“, erzählte meine Schwester stolz, die ihre leibliche Mutter nach wie vor bei ihrem Namen nannte. Mum sagte sie nur zu Susan - unserer gemeinsamen Mutter. Dennoch bewunderte sie Rhona und sah zu ihr auf, wenn sie nicht gerade über sie schimpfte, weil sie sich weigerte, ihr den Namen ihres leiblichen Vaters zu nennen. Sie gab sich Mühe, die Schattenwandlerfähigkeiten zu beherrschen, um so endlich die Anerkennung von Rhona zu erlangen.

      Eliza wäre mit der Erinnerungskontrolle in der Lage, die Erinnerungen von Menschen aus dem Kurzzeitgedächtnis zu löschen. Sie könnte zum Beispiel dieses Gespräch für mich ungeschehen machen, sodass ich gar nicht wüsste, dass Rhona zu Besuch gewesen war. Es war irgendwie verrückt, sie über Erinnerungen reden zu hören, wenn sie selbst sich an ganze zwei Jahre ihres Lebens nicht erinnern konnte.

      „Wofür soll das gut sein?“, gab ich missmutig zurück. „Die Erinnerung eines Menschen sollte nur ihm gehören und nicht von jemand anderem gelöscht oder manipuliert werden können.“

      Eliza machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du bist doch nur eifersüchtig, das ist alles.“

      Rhona ließ den Blick über mich gleiten, wann immer sie einen ansah, hatte man das Gefühl, unter Verdacht zu stehen, etwas verbrochen zu haben. „Warum so schlecht gelaunt?“, fragte sie. Wir hatten noch nie ein enges Verhältnis gehabt, aber früher hatte ich auch nicht gewusst, was ich nun wusste. Rhona war meine einzige Tante gewesen und alleine deshalb hatte ich ihr Sympathie entgegengebracht. Es