Emile Zola

Germinal


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den er in der Nacht gar nicht gesehen hatte. Dieser Kanal lief in gerader Linie vom Voreuxschachte nach Marchiennes wie ein zwei Meilen langes Band von mattsilberner Farbe, eine Wasserstraße, die von großen Bäumen eingesäumt war, hoch über dem Tieflande dahinfloß und sich in der Endlosigkeit verlor mit ihren grünen Böschungen und ihrem matt schillernden Wasser, in dem die rot gestrichenen Boote dahinglitten. In der Nähe der Kohlengrube befand sich ein Landungsplatz mit verankerten Lastschiffen, welche die auf die Brückenstege geschobenen Karren unmittelbar füllten. Weiterhin machte der Kanal eine Biegung und durchschnitt quer die Sümpfe. Die ganze Seele der flachen Ebene schien in diesem in geometrisch genauen Linien dahinfließenden Wasser zu liegen, das sie wie eine Heerstraße durchzog, auf der Kohle und Eisen verfrachtet wurden.

      Die Blicke Etiennes wandten sich von dem Kanal dem Arbeiterdorfe zu, das auf der Hochebene erbaut war, und von dem er nur die roten Ziegeldächer sah. Dann wandten sie sich wieder dem Voreuxschachte zu und blieben am Fuße des lehmigen Abhanges an zwei riesigen Haufen von Ziegeln haften, die an Ort und Stelle geformt und gebrannt wurden. Eine Abzweigung der gesellschaftlichen Eisenbahn verlief hinter einer Verplankung und diente den Zwecken der Kohlengrube. Die letzten Grubenarbeiter wurden hinabgelassen; ein einziger, von Männern geschobener Waggon rollte mit lautem Kreischen über die Schienen. Zerstoben war die Unsicherheit der nächtlichen Finsternis, das unerklärliche Rollen, das Aufflammen unbekannter Gestirne. Die Hochöfen und Koksöfen in der Ferne waren mit der Morgendämmerung erblichen. Nur die Dampfausströmung der Pumpe arbeitete fort mit ihrem lauten, langen Atemzug, dem Atem eines Ungeheuers, dessen grauen Dunst er jetzt zu unterscheiden vermochte, und das durch nichts gesättigt werden konnte.

      Da entschied sich Etienne mit einem Schlage. Vielleicht hatte er die hellen Augen Katharinas da oben am Eingang des Arbeiterdorfes wiederzusehen geglaubt. Vielleicht war es nur ein Zug des Aufruhrs, der ihm vom Voreuxschachte zugeweht kam. Er wußte es nicht. Er wollte wieder in die Grube hinab, um zu leiden und zu kämpfen; in heftiger Aufwallung gedachte er der Leute, von denen Bonnemort gesprochen, des gesättigt dahockenden Gottes, dem zehntausend Hungernde ihr Fleisch gaben, ohne ihn zu kennen.

Teil 2

       Erstes Kapitel

      Die Piolaine, die Besitzung der Familie Grégoire, lag zwei Kilometer von Montsou nach Osten an der nach Joiselle führenden Straße. Es war ein stilloses, großes, viereckiges Haus, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erbaut. Von dem weiten Bodensitz, der ehemals dazu gehört hatte, waren im ganzen dreißig Hektar verblieben, die mit einer Mauer umfriedet und daher leicht zu bewirtschaften waren. Der Obstgarten und der Gemüsegarten waren besonders berühmt, weil sie die schönsten Früchte und Gemüse der ganzen Gegend lieferten. Es fehlte der Park; ein Wäldchen sollte ihn ersetzen. Die Allee von alten Linden, ein Laubdach von dreihundert Meter Länge, zog sich vom Torgitter bis zur Auffahrt des Hauses und war eine Sehenswürdigkeit in dieser kahlen Ebene, wo man von Marchiennes bis Beaugnies nur wenige große Bäume sehen konnte.

      Die Familie Grégoire war heute um acht Uhr aufgestanden. Sie waren Langschläfer und erhoben sich gewöhnlich erst eine Stunde später aus den Betten; allein der Sturm, der in der Nacht gewütet, hatte sie herausgebracht. Während Herr Grégoire sogleich in den Garten ging, um zu sehen, ob der Sturmwind daselbst keinen Schaden angerichtet, begab sich die Frau des Hauses im Morgenkleide von weißem Flanell und in Pantoffeln nach der Küche. Sie war kurz und dick, und obgleich schon achtundfünfzig Jahre alt, hatte ihr dickes Gesicht unter dem schimmernden Weiß ihrer Haare einen kindlichtreuherzigen Ausdruck bewahrt.

      »Melanie,« sagte sie der Köchin, »der Teig ist fertig; Sie können den Kuchen jetzt backen. Das Fräulein steht nicht vor einer halben Stunde auf und ißt zu ihrer Schokolade davon... Das wäre eine Überraschung, wie?«

      Die Köchin, ein altes, mageres Weib, das seit dreißig Jahren im Hause diente, erwiderte lachend:

      »Das ist wahr, es wäre eine schöne Überraschung... Mein Herdfeuer brennt, die Bratröhre ist schon warm. Honorine wird mir übrigens behilflich sein.«

      Honorine, ein Mädchen von zwanzig Jahren, von der Familie als verlassenes Kind aufgenommen und erzogen, diente jetzt als Stubenmädchen. Außer diesen beiden Mägden hatte man im Hause noch einen Kutscher Namens Franz, der die groben Arbeiten zu besorgen hatte. Ein Gärtner und eine Gärtnerin hatten sich mit dem Obstgarten, dem Gemüsegarten und dem Hühnerhof zu beschäftigen. Der Dienst im Hause war ein patriarchalischer, vertraulicher; alle lebten in guter Freundschaft miteinander.

      Frau Gregoire, die noch in ihrem Bette die Überraschung mit dem Kuchen ausgesonnen hatte, blieb in der Küche, um zu sehen, wie der Kuchen in den Ofen kam. Die Küche war riesig groß, und man merkte, daß sie eine bedeutsame Rolle im Hause spiele, an der außerordentlichen Reinlichkeit, die da herrschte, an der Menge Schüsseln, Geräte und Töpfe, die sie füllten. Es roch nach gesunder, guter Kost. Die Gesimse und Schränke waren voll Vorräte jeder Art.

      »Lassen Sie ihn schön goldgelb werden«, empfahl Frau Grégoire ihrer Köchin und begab sich dann in den Speisesaal.

      Trotz der Warmluftheizung, die das ganze Haus erwärmte, brannte in diesem Saale ein lustiges Kohlenfeuer. Übrigens fehlte jeglicher Luxus: ein großer Tisch, die nötigen Sessel und ein Eßschrank von Mahagoni; bloß zwei, tiefe Lehnsessel verrieten die Lust an Behaglichkeit, die langen Stunden zufriedener Verdauung. Man ging niemals in den Salon; man blieb im Familienkreise.

      Eben kam Herr Grégoire. mit einer dicken Barchentjacke bekleidet, ins Haus zurück. Auch er sah rosig aus für seine sechzig Jahre, mit seinem schneeweißen Haar und seinen gütigen, rechtschaffenen[*t typo?] Zügen. Er hatte den Gärtner und den Kutscher gesprochen; es war keinerlei namhafter Schaden geschehen, bloß ein Schornstein war vom Dache gestürzt. Es war ihm eine liebe Gewohnheit, jeden Morgen sich ein wenig in seiner Wirtschaft Piolaine umzutun, die nicht groß genug war, um ihn Sorgen zu verursachen, und an deren Besitz er seine volle Freude hatte.

      »Steht denn Cäcilie heute nicht auf?« fragte er.

      »Ich begreife es nicht«, antwortete seine Frau. »Mich dünkt, ich hörte sie schon sich bewegen.«

      Der Frühstückstisch war gedeckt; drei Tassen standen auf der weißen Tischdecke. Man schickte Honorine hinauf, daß sie nach dem Fräulein schaue. Doch sie kam sogleich wieder herunter, unterdrückte ihr Lachen und dämpfte ihre Stimme, als habe sie oben in dem Zimmer des Fräuleins gesprochen.

      »Ach, gnädiger Herr und gnädige Fraul... Wenn Sie das Fräulein sehen würden!... Sie schläft!... Sie schläft wie ein Jesuskind!... Man hat keine Vorstellung davon... Es ist ein Vergnügen, sie zu sehen...«

      Der Vater und die Mutter tauschten gerührte Blicke aus.

      »Wollen wir schauen?« fragte er.

      »Das liebe Kind!« murmelte sie. »Ich gehe schon.«

      Sie gingen zusammen hinauf. Dieses Zimmer war das einzige im Hause, das mit einigem Luxus eingerichtet war, mit blauer Seide überzogen, mit weißen Lackmöbeln ausgestattet. Die Eltern hatten dieser Laune ihres verhätschelten Kindes nachgegeben. In der verschwimmenden Weiße des Bettes, in dem Zwielichte, das durch den Spalt des Vorhanges auf das Lager fiel, schlief das Mädchen, eine Wange auf den nackten Arm gelehnt. Sie war nicht schön, zu frisch, zu gesund, reif mit achtzehn Jahren; aber sie hatte ein herrliches Fleisch, weiß wie Milch, kastanienbraunes Haar, ein rundes Gesicht mit keckem Näschen, das sich schier zwischen den Wangen verlor. Die Bettdecke war herabgeglitten, und sie atmete so sanft, daß ihr Atem selbst ihren -- schon kräftig entwickelten -- Busen nicht bewegte.

      »Der verdammte Wind hat sie gewiß gehindert, die Augen zu schließen«, bemerkte die Mutter leise.

      Der Vater winkte ihr, daß sie schweige. Beide neigten sich vor und betrachteten mit zärtlicher Liebe diese in jungfräulicher Entblößung daliegende Tochter, die sie so lange ersehnt hatten und die sie spät bekommen hatten, als sie kaum mehr auf ein Kind zu hoffen wagten. Sie fanden sie vollkommen, nicht zu dick, nie genug genährt. Sie schlief noch immer und ahnte nicht, daß sie da seien und mit ihren Wangen sie fast berührten. Doch