Emile Zola

Germinal


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sagte Herr Gregoire bei der Tür. »Wenn sie nicht geschlafen hat, muß man sie schlafen lassen.«

      »Soviel sie will, das liebe Kind,« erwiderte die Mutter. »Wir werden warten.«

      Sie gingen in den Speisesaal hinunter und ließen sich in ihre Lehnsessel nieder, während die Mägde, über den tiefen Schlaf des Fräuleins lachend, ohne Murren die Schokolade warm hielten. Er hatte eine Zeitung zur Hand genommen; sie strickte eine wollene Fußdecke. Es war sehr warm in dem Gemach; kein Laut kam aus dem stillen Hause.

      Das Vermögen der Grégoire, ungefähr vierzigtausend Franken Rente, bestand ganz und gar in einer Aktie der Bergwerke von Montsou. Sie erzählten gern von seinem Ursprung, der in die Zeit der Gründung der Gesellschaft fiel.

      Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war in der ganzen Gegend von Lille bis Valenciennes eine wahre Wut nach Kohlenschürfungen ausgebrochen. Die Erfolge der Unternehmer, die später die Gesellschaft von Auzin bilden sollten, hatten alle Köpfe erhitzt. In der Gemeinde wurde das Erdreich durchwühlt; Gesellschaften wurden gegründet, die Unternehmungen wuchsen über Nacht hervor. Doch unter allen hartnäckigen Kämpfern jener Zeit hatte der Baron Desrumeaux sicherlich das Andenken des scharfsinnigsten und unermüdlichsten hinterlassen. Vierzig Jahre lang hatte er gekämpft, ohne zu ermüden, trotz unaufhörlicher Hindernisse; die ersten Schürfungen waren vergeblich; neue Gruben wurden angelegt und nach monatelanger Arbeit wieder aufgelassen; Einstürze verschütteten die Gruben, Zechen wurden ersäuft, Arbeiter gingen dabei zugrunde, hunderttausende von Franken wurden in die Erde vergraben. Dann kamen die Verdrießlichkeiten der Verwaltung, die Angst der Aktionäre, der Kampf mit den Grundeigentümern, die entschlossen waren, die königlichen Unternehmungen nicht anzuerkennen, wenn man sich weigere, vorher mit ihnen zu unterhandeln. Endlich gründete er die Gesellschaft Desrumeaux, Franquenoix & Cie., um das Unternehmen von Montsou auszubeuten. Die Gruben begannen einen mäßigen Ertrag zu liefern, als zwei benachbarte Unternehmen von Cougny, Eigentum des Grafen von Cougny, und von Joiselle, Eigentum der Gesellschaft Cornille & Jenard, die Gruben der Gesellschaft Desrumeau mit ihrer furchtbaren Konkurrenz zu erdrücken drohten. Glücklicherweise kam am 25. August 1760 ein Vertrag zwischen den drei Unternehmungen zustande und vereinigte sie zu einer einzigen. Die Gesellschaft der Gruben von Montsou war gegründet, wie sie bis auf den heutigen Tag besteht. Man hatte den ganzen Besitz nach dem damaligen Münzfuße in vierundzwanzig Sous zerlegt; jeder Sou zerfiel in zwölf Denare; das machte zweihundertachtundachtzig Denare. Da jeder gleich zehntausend Franken war, repräsentierte das Kapital eine Summe von nahezu drei Millionen. Desrumeaux, am Ende seiner Kräfte, aber dennoch Sieger, bekam bei der Teilung sechs Sous und drei Denare.

      Zu jener Zeit besaß der Baron das Gut Piolaine, zu dem dreihundert Hektar Boden gehörten. Als Verwalter stand Honorius Grégoire in seinen Diensten, ein aus der Picardie stammender junger Mann. Dieser Grégoire war der Urgroßvater des Leon Grégoire, Vaters der Cäcilie. Als der Vertrag von Montsou zustande kam, hatte Honorius fünfzigtausend Franken Ersparnisse, die er in einem Strumpfe verborgen hielt. Der unerschütterlichen Zuversicht seines Gebieters nachgebend, holte er zehntausend Franken aus dem Strumpfe und erwarb einen Denar. Er zitterte dabei vor Angst, daß er seine Kinder berauben könne. Sein Sohn Eugen bezog in der Tat sehr magere Dividenden; da er sich auf den Fuß einer spießbürgerlichen Existenz eingerichtet und überdies die Torheit begangen hatte, die anderen vierzigtausend Franken des väterlichen Erbes in einer unglücklichen Geschäftsunternehmung zu verschleudern, führte er ein ziemlich bedürftiges Leben. Doch der Zinsenertrag des Denars stieg allmählich; die Wohlhabenheit begann mit Felix; ihm gelang es, einen Traum zu verwirklichen, den sein Großvater, der ehemalige Verwalter, seit seiner Kindheit gehegt hatte; er konnte die zum Nationalgut erklärte und zerstückelte Besitzung Piolaine um einen Pappenstiel an sich bringen. Die folgenden Jahre waren jedoch ungünstig; es galt die Abwickelung des revolutionären Umsturzes und das blutige Ende Napoleons zu überdauern. So zog erst Leon Grégoire in erstaunlicher Steigerung die Vorteile aus der zaghaften Kapitalsanlage seines Vorfahren. Mit dem Gedeihen der Gesellschaft wuchsen und gediehen auch diese armseligen zehntausend Franken. Seit dem Jahre 1820 trugen sie hundert Prozent, das sind zehntausend Franken, im Jahre i85o vierzigtausend Franken; vor zwei Jahren endlich war die Dividende auf fünfzigtausend Franken gestiegen; der Wert eines Denars, auf der Börse zu Lille mit einer Million angesetzt, war in einem Jahrhundert auf das Hundertfache gestiegen.

      Herr Grégoire, dem man bei dem Kurse von einer Million geraten hatte, seinen Anteil zu verkaufen, hatte mit seiner lächelnden und väterlichen Miene diesen Rat abgelehnt. Sechs Monate später brach eine Industriekrise aus, und der Denar sank auf sechsmalhunderttausend Franken. Doch er lächelte noch immer und bedauerte nichts, denn die Grégoires hatten ein beharrliches Vertrauen zu ihrem Bergwerk. Die Aktien würden sicher wieder steigen. In diese Zuversicht mengte sich, übrigens auch eine tiefe Dankbarkeit für einen Wert, der seit einem Jahrhundert die Familie so schön ernährte, daß sie die Hände in den Schoß legen konnte. Dieser Wert war gleichsam ihre Gottheit, die ihr Egoismus mit einem Kultus umgab; der Wohltäter der Familie, der sich in einem breiten Bette der Trägheit wiegte, an einer leckeren Tafel mästete. Das ging vom Vater auf den Sohn über: warum das Schicksal durch einen Zweifel erzürnen? Auf dem Grunde ihrer Treue lauerte ein abergläubischer Schrecken, die Furcht, daß die Million plötzlich zerfließen könne, wenn sie ihren Anteil zu Geld machten und es in das Spind legten. Sie hielten ihren Schatz für besser gehütet in der Erde, von wo ein Heer von Arbeitern, Geschlechter von Hungerigen ihn für sie heraufholten, jeden Tag etwas, je nach ihren Bedürfnissen.

      Übrigens flossen Glück und Segen reichlich auf dieses Haus hernieder. Herr Grégoire hatte in jugendlichem Alter die Tochter eines Apothekers von Marchiennes geheiratet, ein häßliches Fräulein ohne einen Sou, das er anbetete und das ihm an Glückseligkeit alles ersetzte. Sie hatte sich in ihrer Häuslichkeit eingeschlossen, lebte in ewigem Entzücken an der Seite ihres Gatten, hatte keinen andern Willen als den seinigen; niemals hatte eine Verschiedenheit des Geschmacks sie getrennt; dasselbe Ideal der Wohlfahrt vereinigte ihre Wünsche; so lebten sie seit vierzig Jahren in Zärtlichkeit und Sorge füreinander. Es war ein geregeltes Dasein; die vierzigtausend Franken wurden in Ruhe verzehrt, die Ersparnisse für Cäcilie ausgegeben, deren spätes Kommen einen Augenblick ihre Berechnungen ins Schwanken brachte. Auch heute noch befriedigten sie jede ihrer Launen: ein zweites Pferd, noch zwei Wagen, Toiletten aus Paris. Doch dies war ihnen eine Freude; sie fanden nichts zu schön für ihre Tochter, während sie selbst einen solchen persönlichen Widerwillen gegen jeden Prunk hatten, daß sie an den Moden ihrer Jugend festhielten.

      Jede Ausgabe, die keinen Nutzen brachte, schien ihnen unsinnig.

      Plötzlich ging die Tür auf, und eine kräftige Stimme rief:

      »Was heißt das? Man frühstückt ohne mich?«

      Es war Cäcilie, die eben aus dem Bette kam, die Augen noch voll Schlaf. Sie hatte in aller Eile ihre Haare aufgesteckt und war in einen Frisiermantel von weißem Wollstoff geschlüpft.

      »Nein,« sagte die Mutter, »du siehst ja, daß man dich erwartet hat... Der Wind hat dich wohl an der Nachtruhe gehindert, mein armes Kind?«

      Das Mädchen schaute sie sehr erstaunt an.

      »Wie? Hat der Wind heute nacht geweht?... Ich weiß nichts davon; ich habe mich nicht gerührt.«

      Dies schien ihnen nun dermaßen komisch, daß alle drei zu lachen begannen; die Mägde, die das Frühstück brachten, lachten mit, belustigt von dem Gedanken, daß das Fräulein zwölf Stunden in einem Zuge geschlafen habe. Der Anblick des Kuchens tat das seinige, alle Gesichter vollends zu erheitern.

      »Wie? Der Kuchen ist schon fertig?« rief Cäcilie wiederholt. »Da hat man mir eine Falle gelegt... Ach, er ist noch ganz warm... Wie gut wird sich das zur Schokolade essen lassen!...«

      Endlich setzten sie sich zu Tische; die Schokolade dampfte in den Tassen; man sprach lange nur von dem Kuchen. Melanie und Honorine blieben da und erzählten, wie er sich so schön gebacken habe; sie betrachteten ihre Gebieter, wie sie mit fetten Lippen sich damit stopften, und meinten, es sei ein Vergnügen, einen Kuchen zu backen, wenn man sehe, wie die Herrschaft ihn gar so gern esse.

      Doch jetzt begannen die Hunde laut zu bellen; man glaubte, sie