Magda Trott

Goldköpfchen Gesamtausgabe (Alle 13 Bände)


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zeigte sich der schlechte Charakter Hertas. Sie nutzte die Schweigepflicht der Mitschülerinnen auf das gröblichste aus. Sie hatte sogar Freude daran, ihre Mitschülerinnen nach jeder Richtung hin zu belasten, sie wusch sich stets rein, während die anderen für ihre Bosheiten gestraft wurden.

      Bei den Zusammenkünften in der Konditorei kam es zu stürmischen Szenen. Und als nun Herta sogar erklärte, daß es Pflicht sei, sich gegen die Autorität der Eltern zu wehren, daß man sich heute jeglichen Zwang von dieser Seite her verbieten müsse, brauste Bärbel auf.

      »Seid doch froh, daß jemand da ist, der euch sagen kann, was gut und schlecht ist. Ich wollte, ich hätte nie geschworen.«

      »Häng’ du nur weiter an der Schürze deiner alten Großmutter«, höhnte Herta, »hast du denn Freiheiten? Kannst du dir dein Leben einrichten, wie du willst? Dein Vater ist ein vermögender Mann, was gibt er dir an Taschengeld? Wir müssen mehr Geld in die Finger bekommen, – wir müssen fordern, daß wir die Mittel haben, unsere eigenen Wege zu gehen.«

      In diesem hetzerischen Tone ging es weiter. Herta wurde zwar häufig stürmisch unterbrochen, aber sie wußte immer wieder die Oberhand zu gewinnen.

      In Bärbel stürmte es. Nur ganz selten fiel eines dieser Worte in ihr Herz. Das meiste, was Herta sagte, war abscheulich. Wie schade, daß man nach dieser Richtung hin nicht irgend jemand befragen konnte. Aber sie mußte ja schweigen, der gegebene Eid band die Lippen.

      Den meisten Widerspruch fand Herta in einer neuen Anordnung. Die Mitglieder des Klubs sollten dadurch gezwungen werden, an jedem Monatsersten zwei Mark Beitrag zu zahlen. Herta wollte diesen Betrag für wichtige Neuanschaffungen verwalten und ausgeben.

      »Das ist viel zu viel Geld«, erklärte Bärbel, »wo soll ich denn zwei Mark hernehmen? Außerdem brauchen wir kein Geld. Es kostet genug, wenn wir hier in jeder Woche Kaffee trinken und Kuchen essen.«

      »Es muß aber sein«, erklärte Herta, »ihr müßt eben Opfer für den Klub bringen, ihr müßt euch in Selbstlosigkeit üben.«

      Sie sprach so überzeugend, daß schließlich eine nach der anderen beipflichtete. Erneut wurde beschlossen, daß jedes Mitglied am nächsten Freitag zwei Mark mitzubringen habe, widrigenfalls es mit Schimpf und Schande aus dem Klub ausgestoßen würde.

      »Hütet euch«, rief Herta, »unserer Sache untreu zu werden, ihr würdet kein Glück mehr im Leben haben, das Unheil heftet sich an eure Fersen. – Also, vergeßt die zwei Mark nicht!«

      Auf dem Heimwege besprachen die einzelnen jungen Mädchen gruppenweise Hertas neue Forderungen.

      »Ich glaube, sie will das Geld für sich haben«, meinte Edith. »Hast du den Mut, auszutreten, Bärbel?«

      »Nein«, entgegnete das Backfischchen kleinlaut.

      »Ich ja auch nicht, – aber wir haben durch sie nur Schimpf und Schande.«

      »Ich habe ihr gestern mein Mathematikheft borgen müssen, alles hat sie abgeschrieben«, sagte Bärbel.

      »Eigentlich geht das zu weit.«

      »Sei nur still, Edith, der Reif ist eben auf uns Blaublümelein gefallen. Wir waren dumm, sie zu unserer Vorsitzenden zu machen.«

      Am übernächsten Tage trat ein Ereignis in Bärbels Leben, das dem Backfisch für lange Zeit das fröhliche Lachen nahm.

      Im Hinterhause des Nebengebäudes hatte sich eine Mutter mit drei kleinen Kindern den Tod gegeben. Sie hatte die Gashähne aufgedreht, man hatte erst am frühen Morgen die Frau gefunden, und alle Wiederbelebungsversuche waren umsonst gewesen. Bärbel war ahnungslos gerade dazu gekommen, als man auf einer Bahre die Toten in den Sanitätswagen lud.

      Ein wildes Entsetzen erfüllte das junge Mädchen. Noch niemals war Bärbel Zeuge einer solchen Tragödie geworden.

      Wohl wußte sie, daß es arme Menschen in Hülle und Fülle gab, wohl hatte sie Bittende an vielen Straßenecken stehen sehen, aber meistens war das junge Mädchen achtlos an diesen vorübergeschritten, kein Gedanke war zu jenen Unglücklichen hingeflogen, die verzweifelt eine milde Gabe erflehten, um den bitteren Hunger zu stillen.

      So stand denn Bärbel Wagner noch immer in dem Menschenhaufen und hörte von allen Seiten die Mutmaßungen, die Behauptungen.

      »Sie ist richtiggehend verhungert«, sagte eine Frau, »niemand hat sich um sie gekümmert. Die Kinder sollen schon lange nach Brot geschrien haben. – Die arme Frau muß ja schließlich zur Verzweiflung getrieben worden sein.«

      »Sie hat einen Zettel hinterlassen. Seit acht Tagen hat sie nichts mehr im Hause gehabt. Zuletzt hat sie für die Kinder einige Semmeln gestohlen, dabei hat man sie erwischt.«

      Nachtdunkle Schatten legten sich über Bärbels Blauaugen. Was sie hier hörte, war so grauenvoll, daß sie keinen anderen Gedanken mehr hatte als bitterste Selbstvorwürfe. Vor etwa vierzehn Tagen war ihr das goldlockige Mädchen begegnet. Oh, sie kannte das Kind genau. Noch sah sie die dunklen, fragenden Augen, und Bärbel hatte gerade damals an einem Stück Schokolade geknabbert und war an der Kleinen vorübergegangen.

      Ach, wie leid ihr das jetzt tat!

      Es würgte ihr im Halse. Sie hätte am liebsten laut aufgeschrien, um sich ein wenig Luft zu machen. Aber mit verhaltenem Atem lauschte sie auf die Worte, die um sie herumschwirrten.

      »Die alte Kahler wird es wohl bald nachmachen, die hungert auch und hat einstmals so gute Tage gesehen.«

      Nein, nein, sie konnte nichts weiter hören, es ging über ihre Kraft. Mit brennenden Augen starrte sie dem davonfahrenden Wagen nach.

      Eine Mutter und drei Kinder, und sie saß alltäglich am vollbesetzten Tische und hatte erst gestern geäußert: »Ach, Großchen, immer Rindfleisch, ich kann es schon gar nicht mehr sehen.«

      Wenn die unglückliche Frau mit ihren drei Kindern gestern das verschmähte Rindfleisch gehabt hätte, die Gashähne wären gewiß nicht geöffnet worden.

      Bis ins Innerste aufgewühlt schlich sich Goldköpfchen davon. Sie mußte ja zur Schule gehen. Der Unterricht hatte wohl längst begonnen. Unwillkürlich preßte Bärbel die schwarze Büchermappe fester unter den Arm. Da drinnen lagen drei mit Wurst belegte Brötchen. Schon der Gedanke daran ließ Bärbel zusammenschauern. Drei Brötchen, für jedes der toten Kinder eins. Wie oft brachte sie eines oder gar zwei davon wieder heim, weil ihr die darauf liegende Wurst nicht mundete.

      Die Augen standen ihr voller Tränen, als sie sich dem Schulhause näherte. Ihr entgegen humpelte ein alter Mann. Aufgewühlt, wie Bärbel war, griff sie in die Büchertasche und hielt dem Alten mit überquellenden Augen die drei Brötchen hin.

      »Nehmen Sie das. Sie haben sicherlich Hunger.«

      Der Alte lachte das junge Mädchen an. »Hunger – nee, Fräulein.«

      »Nehmen Sie, nehmen Sie nur«, sagte Bärbel mit erstickter Stimme und stürmte an dem Verdutzten vorüber, hinein in den Schulhof.

      Der alte Mann sah ihr nach, wickelte kopfschüttelnd die Brötchen aus und murmelte: »Nun, dann nehme ich sie eben mit heim. – Es gibt doch merkwürdige Menschen.«

      Die Geschichtsstunde hatte bereits begonnen, als Bärbel hastig das Klassenzimmer betrat. Sie sah gänzlich verstört aus, in ihren Augen standen noch immer die Tränen.

      »Bitte um Entschuldigung, Herr Doktor, ich – ich habe mich verspätet.«

      Doktor Hering nickte nur dazu. Er hatte einen schnellen Blick auf das junge Mädchen geworfen und sofort gesehen, daß ihm etwas Unangenehmes zugestoßen sein mußte, denn die stets so übermütig blitzenden Augen waren heute feucht und verschleiert.

      Bärbel ließ sich auf ihren Platz nieder und versank wieder in Brüten. Das schreckliche Bild wollte nicht von ihrer Seele weichen. Sie mußte heute mit Großchen reden, denn nicht wieder durfte so etwas Entsetzliches geschehen. Sie würde nicht zum zweiten Male über Rindfleisch klagen; dankbar wollte sie alles entgegennehmen, was man ihr bot.

      »Nun,