Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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verbundenen partiellen Objektivierung des Fahrlässigkeitsmaßstabs auch im Schuldbereich den allein schuldangemessenen individualisierenden Maßstab unzulässig überspielen.[1083]

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      Einzelfälle: Bei nachträglicher Verschärfung einer Verhaltensnorm (bspw. im Falle einer von der Rechtsprechung als unzulänglich erkannten Leitlinie) entfällt regelmäßig eine auch individuell vorwerfbare Sorgfaltspflichtverletzung.[1084] Es ist mithin zwischen der mit Zukunftswirkung zu verschärfenden Verhaltensnorm und dem für das Täterverhalten maßgeblichen, ex ante geltenden Verhaltensunrecht zu trennen.[1085] – Im Falle infolge überdurchschnittlicher Fähigkeiten objektiv erhöhter Anforderungen an die vom Arzt einzuhaltende Sorgfalt (oben unter Rn. 67) ist zu beachten, dass dieses Höchstmaß an Leistung, das der Täter zu erbringen imstande ist, zwar die Grundlage der für ihn geltenden Sorgfaltspflicht bildet, von ihm aber nicht von Rechts wegen erwartet werden darf, diesen Idealanforderungen stets zu genügen. So kann im Einzelfalle ein individueller Fahrlässigkeitsvorwurf entfallen, wenn bei einer schwierigen Operation, die infolge nicht vorhersehbarer Komplikationen über mehrere Stunden dauert, dem dann übermüdeten Chirurgen ein Fehler unterläuft, der angesichts seiner im Regelfall erhöhten Leistungsfähigkeit als objektiv sorgfaltswidrig einzustufen ist. – Auch wird in einer Notfallsituation, in der einem Patienten keine andere Hilfe zuteilwerden kann, eine den objektiv gebotenen Standard unterschreitende Eilmaßnahme des hierfür nicht hinreichend qualifizierten Arztes zumindest schuldlos erfolgen.[1086] – Missversteht eine Krankenschwester eine mündliche ärztliche Anordnung und verabreicht dem Patienten infolgedessen eine erhöhte und deshalb für ihn tödliche Dosis (50 anstelle von 5 ccm Chloroform), so besteht für sie kein Anlass, hierzu bei anderen Krankenschwestern ausdrücklich nachzufragen.[1087] – Wäre eine besondere Narkoseanfälligkeit des Patienten auch bei Hinzuziehung eines Facharztes möglicherweise nicht entdeckt worden, so fehlt es bei dem für die tödliche Narkose verantwortlichen Arzt zumindest an der individuellen Sorgfaltswidrigkeit.[1088]

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      Kann gegen den Arzt (bspw. wegen mangelnder Fachkenntnisse oder Ermüdung) ein Schuldvorwurf in der konkreten Handlungssituation nicht erhoben werden, so kann aber möglicherweise ein – auch subjektiv zurechenbarer – Fahrlässigkeitsvorwurf nach den Grundsätzen der Übernahmefahrlässigkeit erhoben werden. Bei einer objektiv pflichtwidrigen Tätigkeitsübernahme kommt ein Schuldvorwurf jedoch nur dann in Betracht, wenn der Täter weiß oder zumindest hätte wissen können, welche Gefahren für den Patienten er zu meistern hat und welche Fähigkeiten hierfür erforderlich sind.[1089] So würde im Falle einer infolge Altersabbaus reduzierten individuellen Leistungsfähigkeit der Arzt nur dann schuldhaft handeln, wenn ihm dieser Abbau entweder bekannt oder zumindest erkennbar war.[1090] Kann ein Arzt infolge Übermüdung die objektiv gebotene Sorgfalt nicht (mehr) einhalten, so wird ihm im Regelfall ein Schuldvorwurf zu machen sein, da Ermüdungsanzeichen ihm ein hinreichendes „Veranlassungsmoment“[1091] hätten sein müssen, von seiner den Patienten schädigenden Verhaltensweise Abstand zu nehmen.[1092] Es kann von Ärzten aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung erwartet werden, dass sie besser als andere beurteilen können, wann allgemein mit einem im Schutzinteresse des Patienten nicht mehr zu tolerierenden Nachlassen der körperlichen und geistigen Fähigkeit des operierenden Arztes zu rechnen ist.[1093] Auch verlangt die – insoweit durchaus in das Strafrecht zu übertragende – Zivilrechtsprechung, dass der Arzt (auch ein Berufsanfänger) sich selbstkritisch prüft, ob er über die für die Behandlungsmaßnahme erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt.[1094] Insoweit wird gerade von einem Berufsanfänger erwartet, dass „er gegenüber seinen Fähigkeiten besonders selbstkritisch und sich der u.U. lebensbedrohenden Gefahren für einen Patienten bewußt ist, die er durch gedankenloses Festhalten an einem Behandlungsplan, durch Mangel an Umsicht oder das vorschnelle Unterdrücken von Zweifeln heraufbeschwören kann.“[1095] In Bezug auf Pflichten einer ärztlichen Berufsanfängerin betonte der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, dass „berufliche Unerfahrenheit und eine Überforderung (einer zivilrechtlichen Verantwortlichkeit) … nicht entgegen(steht), weil es rechtlich auf die auch von der Anfängerin zu erwartende Einsicht in ihre nicht ausreichenden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen angesichts der für sie erkennbaren unklaren und für den Patienten gefährlichen Umstände ankommt.“[1096] Konnte der noch nicht hinreichend berufserfahrene Arzt aber im Einzelfall nicht erkennen, dass seine mindere Qualifikation den Patienten gefährden könnte, dann fehlt es am individuellen Fahrlässigkeitsvorwurf.[1097]

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      Das Merkmal individueller Vorhersehbarkeit entspricht dem des Wissenselements beim Vorsatz: Dem Täter muss es möglich gewesen sein, diejenigen Elemente des Geschehens zu erkennen, die ihm im Falle vorsätzlichen Handelns hätten bekannt sein müssen. Nach der Rechtsprechung[1098] muss der Erfolg nur im Ergebnis und nicht in den Einzelheiten des dahin führenden Kausalverlaufs voraussehbar gewesen sein. Die Verantwortlichkeit soll aber für solche Ereignisse entfallen, die „so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung liegen, dass sie der Täter auch bei der nach den Umständen dieses Falls gebotenen und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen zuzumutenden sorgfältigen Überlegungen nicht zu berücksichtigen brauchte“.[1099] Diese Maßstäbe der Vorhersehbarkeit sind rein subjektiv zu bestimmen, und zwar in ex-ante-Betrachtung, bezogen auf die Lage und Person des Arztes zum Zeitpunkt der Behandlung.[1100] Maßgeblich ist somit nur dasjenige, was der Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten[1101] in der konkreten Situation als möglich hätte vorhersehen können. Ihm dürfen also in der Fahrlässigkeitsschuld keine Folgen nur deshalb zugerechnet werden, weil die Lebenserfahrung dafür spricht, dass derartige Folgen durch Handlungen der in Frage stehenden Art herbeigeführt werden. Die Frage, womit „man“ rechnen könne und in welchem Umfang der eingetretene Ablauf und die eingetretenen Folgen im Rahmen des nach normaler menschlicher Erfahrung Möglichen liegen, ist bereits (und nur) i.Z.m. der objektiven Vorhersehbarkeit im Rahmen der objektiven Zurechnung zu berücksichtigen.[1102] Im Bereich der Vorwerfbarkeit ist dagegen der Nachweis erforderlich, dass der Täter in diesem konkreten Falle mit der Möglichkeit hätte rechnen können, dass derartige Erfolge durch seine Handlung herbeigeführt würden.[1103] Es kommt entscheidend darauf an, dass der Täter wenigstens Veranlassung hatte anzunehmen, dass sein Verhalten riskant sei und daher zu einem Erfolg führen könnte,[1104] wobei allerdings die bloße Erkennbarkeit dieser besonderen Veranlassung genügt.[1105] Allerdings haben ältere strafgerichtliche Entscheidungen mitunter Erfolge bereits dann zur Last gelegt, wenn nach allgemeiner Erfahrung mit ihnen zu rechnen war. Bei einem durch Sondernormen definierten Sorgfaltsmaßstab (im Bereich der Heilbehandlung konturiert durch Leitlinien, siehe Rn. 15 ff.) hat das OLG Düsseldorf[1106] aus dem objektiv vorauszusetzenden Kenntnisstand hinreichende Rückschlüsse auf die individuelle Vorhersehbarkeit zugelassen. Derartiges Schlussfolgern,[1107] das aus der Feststellungsnot der Praxis geboren ist,[1108] ist nicht unbedenklich.[1109] Es darf nicht darauf hinauslaufen, dass dem Verursacher einer Verletzung alles zur Last fällt, was nach allgemeiner Erfahrung aus der Verletzung entstehen kann. Dann würden nämlich – wie bei der rein objektiv zu bestimmenden zivilrechtlichen Fahrlässigkeit – in unzulässiger Weise Adäquanzkriterien zur Beurteilung individueller Fahrlässigkeit herangezogen.[1110]

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      Auch im Bereich der Heilbehandlung wirft die Feststellung der subjektiven Voraussehbarkeit im Falle bewusster Fahrlässigkeit keine besonderen Probleme auf: Der Täter hat dann ja über die Gefährlichkeit seines Verhaltens und die Möglichkeit des Erfolgseintritts reflektiert, aber pflichtwidrig darauf gehofft, dass diese sich nicht realisieren werde.[1111] Im Falle unbewusster Fahrlässigkeit hingegen fehlt dem