Heidi Cullinan

Winterfeuer


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Einwohnern aufzuwachsen, war, dass die Leute die Kindheit nicht aus dem Kopf bekommen konnten.

      Sie erinnerten sich daran, wie Kyle Boy Scout-Popcorn verkauft oder bei ihnen in der Sonntagsschule gesessen oder seine Hose in ihrem Garten eingenässt hatte, als er noch nicht ganz reif fürs Töpfchen gewesen war. Und irgendwie bedeuteten all diese Erinnerungen, dass sie nicht akzeptieren konnten, dass er nicht länger ein Kind war. In ihren Köpfen war er immer noch der kleine, langbeinige Junge mit dem schlechten Haarschnitt. Und jeder, jeder, redete immer noch davon, dass er es sich zur schlechten Angewohnheit gemacht hatte, in den Highheels seiner Mutter und mit ihrem Make-up im Gesicht herumzustöckeln. Hätte das nicht unser erster Hinweis sein müssen? Doch selbst dann war er kein schwuler Mann. Er war ein schwules Kind.

      Es half nichts, dass Kyle wusste, dass er wie ein Kind aussah. Er wurde nicht nur überall, wohin er ging, nach seinem Ausweis gefragt, die Leute stritten sich deswegen auch noch öfter mit ihm. Du kannst keine fünfundzwanzig sein. Außerhalb der Stadt sprachen sie von seinem Babyface, aber in Logan bestanden die Leute, die ihn seit seiner Kindheit kannten, darauf, dass er immer noch klein war. Die allgemeine Meinung besagte, dass er vielleicht, möglicherweise, fast zwanzig war, aber weiter wagten sie sich nicht hinaus. Der Vermerk des Staates Minnesota auf seinem Führerschein, dass er 1990 geboren worden war, musste ein Fehler sein. Kyle vermutete, dass er irgendwann dankbar für sein jugendliches Aussehen sein würde, doch im Moment würde er alles für ein paar graue Haare geben. Oder die Fähigkeit, sich mehr als einen Flaum als Bart stehen zu lassen. Oder eine Heimatstadt, in der die Leute bereit waren zu glauben, dass er nicht Peter Pan war.

      Als er von Paul Jansens Doppelhaushälfte wegfuhr, schlug sein Herz zu schnell. Die Erinnerung an Pauls schockierten, leicht entsetzten Gesichtsausdruck brannte sich in Kyles Gedächtnis und er hasste seine jugendliche Erscheinung mehr als je zuvor.

      In seinem Kopf waren die Schneeskulpturen kombiniert mit den Grindr-Sticheleien der perfekte Flirt gewesen. Es stimmte, er konnte Paul nicht von Angesicht zu Angesicht dazu bewegen, ihn eines zweiten Blickes zu würdigen, aber er hatte angenommen, dass das wieder was mit diesem ganzen Du bist zu jung-Kram zu tun hatte. Möglicherweise auch die Ich verabrede mich nur mit großen, behaarten Bären-Sache, obwohl er Paul mit ein paar schlanken Männern zusammen gesehen hatte. Kyle hatte bereits versucht, seinen eigenen Typ zu verändern – eine Woche lang hatte er nichts außer fettigem Essen und Milch zu sich genommen, aber letztendlich hatte er Gewicht verloren, weil ihm von dem ganzen Mist schlecht geworden war. Am Ende war er zu dem Schluss gekommen, dass er Paul nur dazu bringen musste, ihn als spaßiges Sexobjekt zu betrachten. Und als verfügbar. Und willig. Also Grindr. Nur dass Paul höchstens an seinen Ködern geknabbert hatte.

      Der erste Schneepenis war ein Jux gewesen, doch damit hatte er mehr erreicht als mit einem Haufen dreckiger Direktnachrichten, also hatte er sich gedacht, was soll's – die Hände schmutzig machen und noch mal das Ganze. Wenn er geahnt hätte, das Paul ihn dabei erwischen würde, hätte er sich für diese Gelegenheit in Schale geschmissen oder etwas angezogen, dass er schneller hätte ausziehen können. Auch wenn das Pauls Gesichtsausdruck nach zu urteilen keinen Unterschied gemacht hätte. Verdammt.

      Die Fahrt zwischen Pauls Haus und seinem eigenen Zuhause war kurz, aber sonst war niemand zu dieser unchristlichen Stunde wach, also konnte Kyle weiterhin für sich selbst ein finsteres Gesicht ziehen, während er seine Jacke weghängte und Zutaten für ein Sandwich aus seinem Kühlschrank holte. Aus Rücksicht auf seine beschissene Laune fügte er dem noch einen Angry Orchard-Cider hinzu. Er stellte alles auf ein Tablett und schlurfte um die Ecke zu seinem Zimmer.

      Während er aß, fragte er sich nicht zum ersten Mal, ob es helfen würde, wenn er seine eigene Wohnung hätte. Es war möglich, dass Paul ihn in jedem Alter und in jeder Umgebung abweisen würde – was wehtat –, aber… na ja, Kyle war gewillt, es zu versuchen.

      Hastig verschlang er sein Sandwich und trank den Cider, während er im Internet surfte. Als er sich durch einige schamlose Pornoclips klickte, drehte er die Lautstärke herunter. Da er mürrisch war, suchte er nicht nach seinen Lieblingsclips, sondern fütterte stattdessen seine schlechte Laune, indem er in kostenlosen zwei bis sechs Minuten langen Teasern nach seinem Kink suchte.

      Denn selbst in seinem Porno war er zu jung. Er würde seinen Arsch darauf verwetten, dass keiner der Kerle in der Bär-Twink-Kategorie fünfundzwanzig war, und, Gott, wenn er dummerweise zur Daddykink-Kategorie wechselte, bekam er alarmierend junge Jungs und Männer, die ihn an seinen Opa erinnerten.

      Wobei er nach niemandem Steine werfen wollte. Aber konnte ein Mann nicht einen schlanken, hübschen jungen Mann mit einem süßen, kuschligen Bären bekommen, der entweder in seinem Alter oder nur ein wenig älter war?

      Er wusste es besser, als zu hoffen, dass er über eins stolperte, in dem es der Twink dem Bären besorgte. Oh, diese Videos existierten und man durfte seinen Arsch darauf verwetten, dass er sie sich als Lesezeichen gespeichert hatte. Aber wenn er in einer Stimmung wie dieser war… tja, er wusste nicht, warum er sich immer wieder selbst daran erinnern wollte, wie unmöglich er war, trotzdem war es das, wonach er suchte. Falls er eine Ahnung hatte, lag sein Problem darin begründet, dass er in einer winzig kleinen Kleinstadt mitten im Nirgendwo lebte. Nein. Er war in jedweder Hinsicht ein Freak. Große, schmale Füße. Dünner Körper und lange Beine. Babyface. Feminines Auftreten. Auf seiner Stirn war gegen seinen Willen passive Tunte tätowiert.

      Er hatte einen tollen Haarschnitt und war exzellent gefärbt, seit Frankie Blackburn in die Stadt gezogen war und einen Friseursalon eröffnet hatte. Alles andere war erbärmlich. Er könnte sich genauso gut einen zweiten Cider genehmigen.

      Er tat es nicht, weil es zu diesem Zeitpunkt sechs Uhr früh und seine Mutter so gut wie aufgestanden war. Egal, wie oft er ihr sagte, dass es etwas anderes war, morgens zu trinken, wenn man die ganze verdammte Nacht auf den Beinen gewesen war, sie regte sich trotzdem auf und bemutterte ihn. Was vermutlich ein weiteres Argument dafür war auszuziehen.

      Morgen werde ich mir die Wohnungsanzeigen ansehen, sagte er sich, als er in sein Bett stieg und in den Schlaf driftete.

      Seine Träume waren eine durchgedrehte Mischung aus Pornos, Paul und der Arbeit. Was seltsam wurde, als sein kurzer Vorstoß in medizinisch angehauchte Pornoclips Kyles Träume inspirierte, sodass er an einem nackten Paul in einem Bett im Pflegeheim eine Prostatauntersuchung durchführte. Wenn er wach gewesen wäre, hätte er diese Fantasie abgewürgt, aber so wachte er mit einem Ständer auf und kam unter der Dusche zu dem sehr hübschen Bild eines nackten Paul Jansen auf allen vieren, der nach Kyles Schwanz bettelte.

      Als er herauskam, war seine Mutter in der Küche und kochte Schweinekoteletts fürs Mittagessen. Sie lächelte und murmelte: »Guten Morgen«, als Kyle auftauchte. Im Hintergrund spielte ein Countrysender und Daryl Parks saß mit der Zeitung am Tisch. Kyles Brüder saßen sich gegenüber und hantierten mit ihren Handys herum. Am kleineren Tisch neben der Schiebetür stritten drei von Kyles Nichten und Neffen darum, wer mehr Chicken Nuggets hatte, und versuchten, die Milch der anderen zu verschütten.

      Kyle lugte um die Ecke ins Esszimmer und ins Fernsehzimmer dahinter, bevor er seine Mutter mit gerunzelter Stirn ansah. »Wo ist Linda Kay?«

      »Ich weiß nicht.« Jane Parks' Tonfall war ein übertriebener Singsang, als sie mit weit aufgerissenen Augen zum Schrank nickte.

      Kyle machte eine große Show daraus, sein Kinn zu kratzen und die Stirn zu runzeln. »Oh, nein. Denkst du, sie ist ausgezogen?«

      »Schwer zu sagen.« Janes Stimme spielte mit, aber sie wandte ihre Konzentration wieder den Essensvorbereitungen zu.

      »Das wäre eine Schande. Letzte Nacht hat es wieder geschneit und ich wollte ein neues Fort bauen. Ein großes Fort.« Er seufzte theatralisch. »Ich schätze, ich werde einfach ein kleines für die Kids bauen.«

      Die Tür zum Vorratsschrank öffnete sich, als eine neunzig Kilo schwere Frau strahlend und fröhlich daraus auftauchte. Zunächst hüllte Linda Kay Kyle in ein breites Lächeln ein, bei der ihre Zunge zwischen ihren Lippen hervorzeigte, bevor sie ihre Arme um ihn schlang und ihn drückte. »Reingelegt, kleiner Bruder.«

      Kyle erwiderte ihre Umarmung, so gut er konnte, und sein Lächeln