mir mit!«, rief Bedell.
Jenny gehorchte, aber die nächste zerstörerische Welle der Schwere spülte kurz darauf über sie hinweg. Das Wackeln kam zurück. Mit jedem Schritt wurden Jennys Bewegungen ungenauer, weniger koordiniert. Ihr Kopf kippte nach vorn und blieb dort, als ob sie nach einem verlorenen Ring suchen würde. Sie fühlte sich merkwürdig entfernt von den Anblicken und Geräuschen um sich herum. Träume ich?, fragte sie sich. Ihr Traben wurde zu einem Schlurfen, ihr Schlurfen zum Gehen. Sie machte noch drei letzte wackelige Schritte und fiel dann wie von einem Scharfschützen getroffen zu Boden. Die Zuschauer sahen in verblüffter Stille dabei zu, wie die anderen Läuferinnen zu Dutzenden an Jennys zusammengekrümmtem Körper vorbeirannten.
So still wie Jenny dalag, mit dem Gesicht nach unten, war nicht davon auszugehen, dass sie bald oder ohne fremde Hilfe aufstehen würde. Aber nur wenige Sekunden später bewegte sie sich, als ob sie versuchen würde, noch vor Ende eines Zehner-Countdowns, wie dem beim Boxen, wieder auf die Füße zu kommen. Sie schaffte es in drei Etappen – von allen Vieren auf halb kniend auf gerade so vertikal –, stützte sich ab und fing an steif zu joggen. Es überholten sie immer noch Läuferinnen, aber nicht mehr so schnell wie vorher. Emma Coburn, eine weitere Teamkameradin von Jenny, lief auf sie auf, und Jenny, nun völlig klar und gedemütigt, dachte, hoffentlich sieht sie mich nicht! (»verrückt«, wie sie später gegenüber Flotrack sagte).
Ganz langsam wurden Jennys Schritte wieder geschmeidiger und ihr Tempo höher. Der Fluss an Läuferinnen, der sie überholte, wurde zu einem Rinnsal. Als Jenny um die weite Kurve lief, die sie auf die 400-Meter-Gerade zum Ziel brachte, war sie genauso schnell wie die Läuferinnen, die in einem dichten Pulk um sie herum liefen.
Vor dem Rennen hatte Jenny ihren Teamkolleginnen gesagt, sie sollten die Augen offen halten nach Läuferinnen in den Shirts von Villanova, Washington und West Virginia. Das waren die Schulen, die Colorado den Sieg in der Teamwertung am ehesten streitig machen konnten. Jetzt sah Jenny eine Läuferin in Washingtons Farben, Purpur und Gold, vor sich. Sie erhöhte das Tempo und fing sie ein, wobei sie unterwegs noch eine ganze Reihe weiterer Läuferinnen überholte.
Das Zielbanner schon in Sichtweite entdeckte Jenny eine weitere Läuferin von der Washington vor sich. Sie beschleunigte, ruderte mit den Armen und schoss vorwärts, lief geschickt Slalom um die Läuferinnen herum, die sie gerade noch überholt hatten, die Augen auf die Beute geheftet. Sie schien in großartiger Form. Es fehlte ihr absolut nichts. Zwei Meter vor dem Ziel, sprintete Jenny an Kayla Evans von der Washington vorbei, einem Uni-Neuling, deren Bestzeit über 3.000 Meter 93 Sekunden langsamer war als Jennys. Die beste College-Läuferin aller Zeiten überquerte in ihrem letzten Hochschulrennen die Ziellinie als 163.
DIE NCAA NATIONAL CHAMPIONSHIPS 2009 wurden live im Fernsehen übertragen. Ein Kamerateam wartete ungefähr zehn Meter hinter der Ziellinie auf Jenny Barringer. Sie rang immer noch nach Atem, als Reporterin Cat Andersen ihr ein Mikrofon unter die Nase hielt und fragte, was passiert sei.
»Ich habe mich nach der Hälfte der Strecke nicht so gut gefühlt«, antwortete sie unter Tränen.
Am nächsten Tag nahm Jenny ein 24-minütiges Videointerview für Flotrack in ihrem Hotelzimmer in Terre Haute auf. Ihrer ersten, sehr untertriebenen Erklärung für ihren Einbruch fügte sie nicht viel mehr hinzu.
»Es kam wie eine Welle«, sagte sie. »Aus dem Nichts war da plötzlich der Gedanke: Ich weiß nicht, ob ich laufen kann. Ich weiß nicht, ob ich gegenhalten kann.«
Vielleicht verriet das, was Jenny nicht sagte, mehr über ihren Zusammenbruch als das, was sie sagte. Sie sagte nicht, dass sie sich einen Muskel gezerrt oder einen Asthmaanfall erlitten hatte, oder dass sie quälende Bauchkrämpfe bekommen hatte, die durch eine gleitende Rippe verursacht worden waren, die in ihr Zwerchfell stach (was Susan Kuijken passiert war, die Dritte wurde). Jennys knappe Beschreibung ihrer Implosion schien vielmehr nahezulegen, dass sie nicht von etwas Physischem zu Fall gebracht worden war, sondern von einem Gefühl.
Ist diese Erklärung überhaupt plausibel? Laut dem Psychobiologischen Modell des Ausdauersports ist sie das.
In Ausdauerwettkämpfen steuern die Athleten ihre Geschwindigkeit größtenteils durch ihr Gefühl. Rückmeldung von außen wie Splitzeiten oder die eigene Position im Vergleich zu anderen Athleten kann das sogenannte Pacing beeinflussen, aber es ist ein innerer Sinn für die Angemessenheit des Tempos von Augenblick zu Augenblick, der das erste und letzte Wort darüber hat, ob ein Athlet sich dafür entscheidet, schneller zu werden, das Tempo zu halten, langsamer zu werden oder zu einem leblosen Häufchen zusammenzufallen. Die wissenschaftliche Bezeichnung für diesen Pacing-Mechanismus lautet vorwegnehmende Regulation. Sie erzeugt ein fortdauerndes Gefühl, ähnlich einer Intuition, dafür, wie die jeweilige Anstrengung angepasst werden muss, um das Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Ihre Eingaben sind Anstrengungswahrnehmung, Motivation, Kenntnis der Distanz, die noch zu überwinden ist, und Erfahrungen in der Vergangenheit.
In einer Zusammenfassung von Samuele Marcoras Psychobiologischem Modell des Ausdauersports, die 2013 veröffentlicht wurde, schrieben brasilianische Physiologen, dass »Anstrengungswahrnehmung die bewusste Wahrnehmung der Befehle sei, die der zentrale Motor an die aktiven Muskeln aussendet«. Anders ausgedrückt ist Anstrengungswahrnehmung das Gefühl der Aktivität im Gehirn, die die Muskeln zur Arbeit anregt; es ist nicht das Gefühl der eigentlichen Muskelarbeit. Abgesehen von Reflexen beginnt jede Muskelarbeit mit einem bewussten Willensentschluss dafür. Dieser Befehl entsteht in der motorischen Rinde des Gehirns und dem supplementär-motorischen Bereich. Wissenschaftler können die Intensität dieser Befehle messen, und diese Messung wird als bewegungskorreliertes kortikales Potenzial (MRCP) bezeichnet. Marcora hat aufgezeigt, dass MRCP und Anstrengungswahrnehmung bei maximaler Intensität hoch sind und auch, dass sie kovariant steigen, wenn man über einen längeren Zeitraum bei niedriger Intensität trainiert. Das ist ein zwingender Beweis dafür, dass Anstrengungswahrnehmung tatsächlich mit der Hirnaktivität, nicht mit der der Muskeln, verknüpft ist.
Wenn erfahrene Ausdauerathleten einen Wettkampf über eine gewohnte Strecke absolvieren, tendiert die wahrgenommene Anstrengung dazu, linear anzusteigen, bis sie kurz vor der Ziellinie ihren Höhepunkt erreicht. Aber die wahrgenommene Anstrengung ist etwas Subjektives und deshalb etwas, das sich je nach den Umständen drastisch verändern kann. Wenn Athleten es wirklich wollen, sind sie in der Lage, mehr wahrgenommene Anstrengung auszuhalten, als wenn sie vergleichsweise unmotiviert sind. Folglich ändert sich ihre Pacing-Strategie. Wahrgenommene Anstrengung gleicher Intensität kann dazu führen, dass sie die Geschwindigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Rennen, für das sie nicht motiviert sind, beibehalten, während sie am entsprechenden Punkt eines Rennens, das ihnen wichtig ist, das Tempo erhöhen.
Sich bewusst zu sein, wie weit es noch bis ins Ziel ist, beeinflusst ebenfalls, wie eine bestimmte Intensität wahrgenommener Anstrengung interpretiert und genutzt wird. Ein Läufer, der bei Kilometer 4 eines 10-Kilometer-Rennens eine bestimmte Intensität wahrgenommener Anstrengung spürt, könnte Panik bekommen und langsamer werden, während ein Läufer, der die gleiche Intensität bei Kilometer 7 eines 10-Kilometer-Rennens spürt, einen Selbstbewusstseinsschub bekommen und schneller werden könnte.
Diese Berechnungen werden wiederum stark beeinflusst durch die vorhandenen Erfahrungen. Durch sie lernen Athleten, wie sie sich an verschiedenen Punkten von Rennen unterschiedlicher Länge fühlen sollten. Ein erfahrener Athlet geht in jeden Wettkampf mit vorprogrammierten Erwartungen daran, wie er sich an verschiedenen Punkten erwartungsgemäß fühlen könnte. Jede Abweichung zwischen der Erwartung und dem tatsächlichen Gefühl wird dazu führen, dass die Geschwindigkeit entsprechend angepasst wird. Ein Athlet, der regelmäßig vor einem Zeitfahren Nitrate einnimmt, wird sich wahrscheinlich besser fühlen als erwartet und schneller fahren als sonst, während ein Athlet, dem Interleukin-6 (ein zellsimulierender Faktor, der in Verbindung mit Ermüdung gebracht wird) verabreicht wird, bevor er ein Zeitfahren absolviert, wird sich vermutlich schlechter als erwartet fühlen und folglich langsamer als sonst fahren.
Die wahrgenommene Anstrengung hat zwei Schichten. Die erste ist, wie sich der Athlet fühlt. Die zweite, wie er das, was er fühlt, empfindet. Die erste Schicht ist rein körperlich, während